Zurück aus Polen: Warschau is' schau!

Homestory #38/23

Ungarische Verhältnisse in Polen? Die Situation von Frauen, LGBT, Medienschaffenden, Säkularisten, Historikerinnen und Flüchtlingen in Polen ist schwierig bis düster. Der besserwisserischen deutschen Wahlkampfberichterstattung und dem einseitigen Abgesang auf die polnische Gesellschaft schließt sich die »Jungle World« trotzdem nicht an.
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»Schauspielertruppe, ihr seid ’ne Schauspielertruppe«, singen Fußballfans im Stadion, wenn ihrer Meinung nach ein Spieler aus dem gegnerischen Team vortäuscht, gefoult worden zu sein, um so einen Vorteil herauszuschlagen. Die Mitarbeiter Ihrer Lieblingszeitung aber haben tatsächlich eine journalistische Recherchereise unternommen und eine solche nicht nur fingiert, wovon Sie sich in dieser Ausgabe überzeugen können.

Tatsächlich wird in den polnischen Medien ab und an der Unterschied zwischen den beiden Berufsgruppen Journalisten und Schauspielern nicht so ernst genommen. So erzählte uns eine Redakteurin der linken Zeitschrift Krytyka Polityczna von einem US-amerikanischen Modedesigner, der im öffentlich-rechtlichen Sender Telewizja Polska (TVP) überschwänglich den Kleidungsstil von Polens First Lady Agata Kornhauser-Duda lobte. Später stellte sich heraus, dass es sich dabei, anders als behauptet, nicht um einen angesehenen Designer aus den USA, sondern einen polnischen Schauspieler aus Polen handelte. Ebenfalls bei TVP schien Stanisław Góźdź, der Direktor des Onkologischen Zentrums der Woiwodschaft Świętokrzyskie in Kielce, angebliche Verbesserungen des Gesundheitssystems durch Präsident Andrzej Duda zu loben. Recherchen unabhängiger Medien ergaben im Nachhinein, dass besagter Direktor zwar existiert, aber völlig anders aussieht.

Richtig neidisch kann man auf polnische Linke nicht werden.

Das wunderschöne, lichtdurchflutete Redaktionsbüro der Krytyka Polityczna in einem charmanten Hinterhof mitten in der Innenstadt hat uns durchaus mit ein wenig Neid erfüllt, allerdings wird die Jungle World auch nicht mit Geldern von George Soros’ Open Society Foundations finanziert. Anders ginge es in Polen allerdings auch nicht, denn eine durch Abonnements finanzierte linke Zeitschrift würde nicht genug zahlende Leserinnen finden, meint die Redakteurin. So richtig neidisch kann man auf polnische Linke da nicht werden.

Bei den Wahlen am 15. Oktober entscheidet sich nicht nur, ob die nationalkonservative Partei PiS noch weitere vier Jahre regiert, mit allen verheerenden Folgen für Rechtsstaat, Geschichtspolitik, Flüchtlings-, Frauen- und LGBT-Rechte – zudem könnte PiS das möglicherweise auch in einer Koalition mit der rechtsextremen Konfederacja tun. Mit dem liberalkonservativen Donald Tusk eine Regierungskoalition zu bilden, mag für die Allianz der linken Parteien zwar keine traumhafte Option sein, wäre aber schlicht das notwendige kleinere Übel.

Die Redakteurin, die uns zunächst für eine Delegation aus Ungarn hielt, betonte, man fürchte in Polen bald ungarische Verhältnisse. Dennoch machte Warschau auf die Mitarbeiter ihrer Lieblingszeitung den Eindruck, dass es ganz so düster dann doch nicht aussieht. Die hippen Studentencafés und -bars, die offenen linken Leute, die sie kennenlernen durften, gleich mehrere Hausprojekte – in Warschau scheint noch einiges möglich zu sein. Die Einwanderung von politischen Exilanten aus Belarus und von Ukrainerinnen, die ebenfalls tendenziell eine liberalere Sozialisierung mitbringen, scheint sich positiv auf die Stadt auszuwirken und es liegt vielleicht so etwas wie eine vorsichtige Aufbruchsstimmung in der Luft.

Natürlich hat das Jungle World-Team für Sie an Ort und Stelle die schwierige Situation von Frauen, LGBT, Medienschaffenden, Säkularisten, Historikerinnen und Flüchtlingen recherchiert, ist an die Grenze gefahren. Dennoch, der besserwisserischen deutschen Wahlkampfberichterstattung und dem einseitigen Abgesang auf die unbelehrbar konservative und illiberale polnische Gesellschaft will sich Ihre Lieblingszeitung, die auch klandestine Verhütungsmittelnetzwerke entdeckt und im autonomen Zentrum mitgeboxt hat, nicht anschließen.

Alle, die mehr darüber erfahren und mit uns diskutieren möchten, sind herzlich zur Release-Party der Polen-Ausgabe am Freitagabend, dem 22. September ab 19 Uhr in der Programmschänke »Bajszel« in der Emser Straße 8–9 in Berlin-Neukölln eingeladen.

Schließlich möchten wir uns noch ganz besonders bei unserer Autorin Magda Wlostowska bedanken, die auf der Reise viel für uns übersetzt hat und uns einiges über Warschau erzählen konnte, sowie bei Natalia Sineaeva-Pankowska für die Führung im Museum für die Geschichte der Juden in Polen, bei Katrin Stoll für die Führung durch das Gelände des Warschauer Ghettos, bei Patrycja Wieczorkiewicz von der Krytyka Polityczna und unserem Autoren Jos Stübner für die vielen Tipps und die Kontakte.
 

»Jungle World«-Release  Jungle Bar  Freitag, 22. September 2023 Einlass 19 Uhr, Beginn 20 Uhr  Zwischen den Polen Die »Jungle World«-Redaktion war in Warschau.  Im Bajszel präsentieren wir unsere Ausgabe in einem Podiumsgespräch. Am 15. Oktober wird gewählt - in einer polarisierten Gesellschaft. Bleibt es bei der rechtskonservativen Vorherrschaft? Wie wird der Kampf um Frauen- und LGBT-Rechte geführt? Welche Folgen hat der Ukraine-Krieg? Wir haben unter anderem mit Feminist:innen und belarussischen Exilant:innen gesprochen, die Widersprüche der Gedenkpolitik erkundet und sind bis an die Grenze gegangen.  Eine Veranstaltung des disko e.V. Spende 3-5 Euro (dafür gibt's die extradicke Warschau-Sonderausgabe der »Jungle World« dazu)  kurz: Zwischen den Polen: Die »Jungle World«-Redaktion war in Warschau. Wir haben u.a. mit Feminist:innen & belarussischen Exilant:innen gesprochen, die Widersprüche der Gedenkpolitik erkundet und sind bis an die Grenze gegangen. Release am Freitag im Bajszel! Einlass 19 Uhr, Beginn 20 Uhr