Osama bin Laden wird zum Tiktok-Star, Antiimps wollen mit Islamisten über Bündnisse diskutieren

Homestory #47/23

Bei schwindender Rerstvernunft stellt sich den Mitgliedern der »Jungle World«-Redaktion immer stärker die Frage: Mit wem überhaupt noch reden?
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Es sah auf der Welt schon mal besser aus in puncto Restvernunft. In jüngster Zeit scheinen besonders viele Sicherungen durchzubrennen. Es ging los mit einem Tiktok-Trend. Über Nacht bekam völlig über­raschend der vormalige, 2011 getötete Anführer der Terrororganisation al-Qaida, Osama bin Laden, seinen Status als Influencer. Tik­toker auf der ganzen Welt berichteten, bin Ladens »Letter to America« habe ihren gesamten Blick auf die Welt verändert. Mit seinen Worten habe er richtig gelegen.

Zur Erinnerung: In diesem Brief rechtfertigte bin Laden die Ermordung von rund 3.000 US-amerikanischen Zivilisten am 11. September 2001 und hetzte ganz unverfroren gegen Juden und Israel – was für ein sympathischer bärtiger Mann er doch ist.

Die Popularität der den Terroristenführer preisenden Videos ist wohl zunächst überschätzt worden, doch es bleibt erschreckend, dass es sie überhaupt gibt. Die Beliebtheit bärtiger Männer, die Israel abgrundtief hassen, geht über Tiktok hinaus. Die reaktionäre »Revolutionäre Linke« beispielsweise erwägt, sich, von diesen nicht mehr nur inspirieren zu lassen, sondern ihnen direkt eine Freundschaftsanfrage zu stellen. Unter dem Titel »Leftists and Islamists Working Together« wollen eben jene Reaktionäre über eine künftig potentielle Zusammenarbeit mit den Bärtigen diskutieren.

»Ich rede grundsätzlich mit niemanden«, gesteht ein Kollektivmitglied. Ein anderer rede zumindest mit sich selbst.

Diskutieren wäre das eine; vor allem wer sein Geld mit dem Schreiben verdient, steht immer wieder vor der schwierigen Frage, mit wem es legitim ist zu reden – Stichwort: journalistische Sorgfaltspflicht. Die Meinungen und Grenzziehungen sind auch in ihrer Lieblingszeitung hierzu unterschiedlich. Eine Redakteurin etwa findet deplatforming generell zu bequem, das diene nur der eigenen Moral.

Ein anderer habe bereits Interviews geführt, die er heute nicht mehr führen würde. Als Beispiel nannte er ein langes Interview mit Mitgliedern der Identitären Bewegung, als diese sich gerade gründete. Diese seien am Ende jedoch so sauer über den daraus entstandenen Text gewesen, dass sie ihn in einem langen Rant als »Schweinejournalismus« diffamiert hätten. Wieder ein anderer berichtet, dass er im Zuge einer wissenschaftlichen Recherche mal mit Mitgliedern mehrerer ägyptischen Gruppen gesprochen habe. Unter anderem habe er in diesen Gesprächen herausgefunden, wie der inoffizielle islamistische Heiratsmarkt funktioniere.

Berufliche Gesprächsbereitschaft ist das eine, im Privaten stellt sich die Frage aufs Neue. »Ich rede grundsätzlich mit niemanden«, gesteht ein Kollektivmitglied. Ein anderer rede zumindest mit sich selbst. Und ein dritter habe nach der Zweiten Intifada sämtliche Kontakte zur italienischen (post)operaistischen Szene abgebrochen. Keiner seiner Bekannten habe die Selbstmordattentate gegen israelische Zivilisten nicht wenigstens um drei Ecken gerechtfertigt.

Einig ist man sich allerdings in einer Frage: Mit den Feinden Israels wird die Jungle World auch weiterhin auf keinen Fall zusammenar­beiten. Selbst in der antiimperialistischen Szene, so erinnert sich ein Redakteur, galten Islamisten einst als Konterrevolutionäre; eine Restvernunft, die heute in Teilen der radikalen Linken offenbar verlorenzugehen scheint.