In Moskau traf sich die russisch-orthodoxe »Allweltliche russische Volkssynode«

Kirche und Staat vereint

In Moskau trafen sich die Vertreter der orthodoxen »Allweltlichen russischen Volkssynode« zum Jahrestag von deren Gründung im Kreml, um mit Präsident Wladimir Putin die »Gegenwart und Zukunft der russischen Welt« zu erörtern. Die sieht für russische Frauen vor allem viele Kinder vor und für Homosexuelle Verfolgung.

Ikonische Christus-Darstellungen hängen auf der linken und der rechten Seite und genau in der Mitte zwischen ihnen erscheint der russische Präsident Wladimir Putin – allerdings nicht höchstpersönlich, sondern nur per Videoschaltung. Derweil tritt direkt unter dem ­Videobild Patriarch Kyrill auf die ausladende Bühnenfläche, der Vorsteher der Russisch-Orthodoxen Kirche in Moskau, um die Plenarsitzung der »Allweltlichen russischen Volkssynode« anlässlich des 30. Jahrestags von deren Gründung zu eröffnen. Dann geht das Wort an Putin.

Im riesigen, bis auf den letzten Platz gefüllten Saal des Großen Kremlpalasts lauschten dem Präsidenten am 28. November die geladenen Konferenzgäste – Vertreter:innen aus dem Staatsapparat, verschiedener nichtstaatlicher Organisationen und der großen Religions­gemeinschaften. Während Putins Rede wurde der Schriftzug »Gegenwart und Zukunft der russischen Welt« eingeblendet – genau darum ging es. Eingangs konstatierte er, wie bereits bei früheren programmatischen Auftritten, Fehler in der Vergangenheit. Zudem machte er für den Zerfall der Sowjetunion die Schwäche der zentralen Staatsführung verantwortlich – genauer gesagt sprach er von der »Politik einer künstlichen, gewaltvollen Teilung der großen russischen Nation«.

Einen Satz des Präsidenten hoben Nationalist:innen unterschiedlicher Couleur, allen voran der kremlnahe, orthodoxe Sender Zargrad TV, im Nachhinein mit besonderer Begeisterung hervor: »Ohne Russen als éthnos, ohne das russische Volk kann es auch keine russische Welt geben und kein Russland.« Dabei handle es sich keineswegs um ein Zeichen von Überheblichkeit, vielmehr gehe es um kulturelle, geistige und historische Identität, so Putin sinngemäß. Russe zu sein, bedeute zuallererst Verantwortung.

Dem Milliardär Konstantin Malofejew und Patriarch Kyrill ist es gelungen, die orthodoxe Volkssynode als Instrument zur Verbreitung russischer Staatsideologie zu nutzen.

Nach einer Schweigeminute für im Krieg gegen die Ukraine Gefallene machte Putin eine zweite Kernaussage: »Unsere Schlacht für Souveränität, für Gerechtigkeit hat ohne Übertreibung den Charakter einer nationalen Be­freiung.« Russland verteidige die Sicherheit und das Wohlergehen des Volks und das Recht, eine starke und unabhängige Großmacht und Zivilisation zu sein. Damit nicht genug, fügte der Präsident hinzu, Russland kämpfe nicht nur für die eigene Freiheit, sondern für die Freiheit der gesamten Welt.

Man könnte dieses Pathos als Größenwahn einstufen, allerdings hat Putin die bisherige Staatsdoktrin damit lediglich zugespitzt formuliert. Kon­stantin Malofejew, ultrakonservativer Milliardär, Gründer und Eigentümer von Zargrad TV, stellvertretender Vorsitzender der Volkssynode und einer der glühendsten Verfechter eines russisch-orthodox verfassten Imperiums, verlautbarte auf seinem Sender, Putin habe genau das gesagt, was er von ihm erwartet habe. Insbesondere zeigte er sich erfreut, dass die bisherige Lesart hinfällig sei, wonach Russland einen Krieg gegen den ukrainischen Staat führe. Jetzt sei klar definiert, dass es sich um einen nationalen Befreiungskampf gegen den Globalen Westen handle.

Malofejew gilt als eine der treibenden Kräfte bei der Einverleibung ukrainischer Gebiete. Sein in den nuller Jahren vor allem als Teilhaber des russischen Telekommunikationskonzerns Rostelecom erworbenes Vermögen erlaubte es ihm 2014 und in den folgenden Jahren, separatistische Gruppen im Donbass auch mit eigenen Mitteln finanziell zu unterstützen. Als überzeugter Monarchist sieht er in Putin eine Art Prototyp eines modernen Herrschers über ein russisches Großreich, dementsprechend will er den Präsidenten in von ihm geleitete Projekte einbinden. Eines davon ist die Volkssynode, 1993 als internationale Organisation unter der Führung der Russisch-Orthodoxen Kirche gegründet. Insofern kann er Putins vor russischem Nationalismus strotzende Rede in der vergangenen Woche durchaus als Erfolg für sich verbuchen. Malofejew und Patriarch Kyrill ist es gelungen, die orthodoxe Volkssynode als Instrument zur Verbreitung russischer Staatsideologie zu nutzen.

Nach der Großveranstaltung gab es selbst im rechten Lager Kritik an einigen Aussagen des Präsidenten.

Einer der Kommentator:innen auf Zargrad TV, Andrej Perla, bezeichnete Putins Hauptthesen vorschnell als Teil von dessen Wahlprogramm für das Frühjahr 2024, obwohl der Kreml Putins Kandidatur noch gar nicht verkündet hat. Nicht, dass irgendjemand an dieser und an einem weiteren Wahlsieg Putins zweifeln würde. Doch Zeitabläufe und Botschaften an die Wähler:innen, die in ihrer Gesamtheit keineswegs einen extrem rechten Kurs unterstützen dürften, werden in der Präsidialverwaltung normalerweise präzise kalkuliert und geplant.

Nach der Großveranstaltung gab es selbst im rechten Lager Kritik an einigen Aussagen des Präsidenten, zum Beispiel denen über das Ideal der Großfamilie. »Erinnern Sie sich daran, dass in russischen Familien unsere Großmütter und Urgroßmütter sieben oder acht Kinder hatten. Lassen Sie uns diese hervorragenden Traditionen bewahren und wiederbeleben«, sagte Putin. Aber nicht nur er, auch viele andere russische Führungskader leben ein ­völlig anderes Familienmodell vor als das von ihnen propagierte sogenannte traditionelle.

Aleksandr Dugin, der neurechte Propagandist einer Eurasien-Bewegung und Mitglied im Präsidiumsbüro der Volkssynode, machte in seinem Beitrag klar, dass die Quintessenz der russischen Ideenwelt gegenwärtig die Abkehr von sogenannten westlichen Werten sei. Ausgangspunkt ist demnach die reine Negation westlicher Demokratien und ihrer – für Russland als fremd deklarierten – Grundsätze wie der allgemeinen Menschenrechte und der Rechtsstaatlichkeit. Da sich der russische Staat und seine Wirtschaft auf einen langen Krieg eingestellt haben, bietet diese Auffassung einem Großteil der russischen Bevölkerung wenig attraktive Aussichten.

Am 30. November entschied das Oberste Gericht auf eine Klage des Justizministeriums hin, die »internatio­nale LGBT-Bewegung« als extremistisch einzustufen und zu verbieten.

Widersprüchlichkeiten kennzeichnen insgesamt das Vorhaben der Staatsführung, Russland eine Ideologie aufzudrücken, die das Land vor einer imaginierten existentiellen Bedrohung durch den Westen schützen soll. Legt man die Verfassung zugrunde – sogar die 2020 im Schnelldurchlauf per Referendum abgesegnete Version, die Putin weitere Amtszeiten ermöglicht –, darf es gar keine offizielle Staatsdoktrin geben. Behauptungen, eine solche sei notwendig, zogen sich jedoch durch das gesamte Programm der Volkssynode. Bereits vor einem Jahr legte Putin in einem Dekret die neuen Grundlagen der Staatspolitik zur Bewahrung und Festigung der traditionellen russischen geistig-moralischen Werte fest.

Am 30. November entschied das Oberste Gericht auf eine Klage des Justizministeriums hin, die »internatio­nale LGBT-Bewegung« als extremistisch einzustufen und zu verbieten. Auf »Extremismus« stehen in Russland langjährige Gefängnisstrafen. Kurz ­darauf führte die Polizei in mehreren Nachtclubs und Bars Razzien durch. ­Jewgenij Fjodorow, der Vorsitzende des Staatsduma-Ausschusses für Haushalts- und Steuerfragen, schlug wenige Tage später vor, Kinderlose zu einer Art Strafabgabe zu verdonnern. Ihm, wie auch vielen anderen Staats­diener:innen, bereitet die niedrige Geburtenrate in russischen Familien Kopfzerbrechen, die aus Zentralasien oder dem Kaukasus zugewanderte ­Familien deutlich übertreffen. Nicht alle Vorschläge aus dem Apparat werden verwirklicht, aber es werden nicht verebben wollende Debatten über ­»traditionelle Werte« geführt.

Im Zuge der allseits diskutierten Kinderfrage wird auch das Recht auf Abtreibung zusehends in Frage gestellt. In mehreren russischen Regionen haben die dortigen Regierungen bereits ein faktisches Abtreibungsverbot in Privatkliniken erwirkt. Der Druck auf private Einrichtungen erhöht sich so sehr, dass manche von ihnen lieber in vorauseilendem Gehorsam darauf verzichten, Schwangerschaftsabbrüche vorzunehmen, um keinen Lizenzentzug zu riskieren.