Ein halbes Jahr nach dem Erdbeben liegen viele Bergdörfer in Marokko noch in Trümmern

Zwischen Trümmern und Zelten

Ein halbes Jahr nach dem Erdbeben in Marokko kommt der Wiederaufbau in den am schwersten in Mitleidenschaft gezogenen Bergdörfern kaum in Gang.

Tagmoute. Zerborstene Mauern, aufgerissene Häuser, die Moschee ein Skelett aus Holzbalken und Mauerresten: Seit sechs Monaten liegt die Siedlung nahe dem Bergdorf Tagmoute im marokkanischen Atlasgebirge in Trümmern. Die Einwohner sind längst umgezogen, haben auf dem Dorfplatz von Tagmoute eine kleine Zeltstadt aufgebaut – ein notdürftiges Zuhause auf unbestimmte Dauer.

Am 8. September 2023, einem Freitagabend, ereignete sich ein Erdbeben der Stärke 6,8 in der Provinz al-Haouz im Atlasgebirge. Etwa 3.000 Einwohner sollen nach Angaben der marokkanischen Regierung getötet worden sein, als das Beben bis in die 70 Kilometer entfernte Touristenhochburg Marrakesch Gebäude zum Einstürzen brachte. Insgesamt 300.000 Menschen, schätzen die Vereinten Nationen, seien vom Erdbeben betroffen. Aber während in Marrakesch die meisten Schäden längst behoben sind, ist von einem Wiederaufbau in den Bergdörfern wenig zu sehen.

Die Einwohner der Zeltstadt von Tagmoute empfangen an diesem Tag Besuch: Eine Gruppe freiwilliger Helfer, geschickt von der British Moroccan Society, trifft unter den neugierigen Blicken einiger Kinder im Dorf ein. Die Organisation, eigentlich für den kulturellen Austausch zwischen den beiden Königreichen gegründet, verteilt seit dem Erdbeben Ausrüstung und Essenspakete in den zerstörten Ortschaften. Heute bringt sie neue Zelte mit. Sie sind dünner als die dicken Plastikzelte, die anfangs von der Regierung verteilt wurden, sich in der Sommersonne aber schnell aufheizen.

Kurz nach dem Beben dominierte noch die Angst vor der Kälte – während der Winternächte fällt die Temperatur im Gebirge oft unter den Gefrierpunkt. »Es gab einige harte Nächte«, erinnert sich der Anwohner Brahim Bar­khouche, »als es Wind oder Regen oder beides gab.« Im Großen und Ganzen sei der Winter aber mild ausgefallen. Barkhouche ist 59 Jahre alt und Besitzer eines Gästehauses. Wie die meisten Bewohner des Atlasgebirges gehört er zur indigenen nordafrikanischen Ethnie der Amazigh. Sein Dorf habe Glück gehabt, niemand sei bei dem Beben gestorben. Das ist nicht selbstverständlich: »Da war ein Dorf weiter südlich, in dem alle starben.«

Barkhouche erinnert sich noch gut an die Tage und Wochen nach dem Beben: »Wir waren im Überlebensmodus, mussten anfangen zu planen«, erzählt er, »denn niemand anderes tat das für uns.« Während sie die ersten Nächte draußen übernachteten und sich ihr Essen in einer Nische unter freiem Himmel kochten, begannen sie mit dem Wiederaufbau der Infrastruktur. Welche Straßen sind zugänglich, wo werden welche Lebensmittel gebraucht, wie kann Hygiene gewährleistet werden? Vorläufige Schlafmöglichkeiten mussten organisiert, das Quellwasser musste auf Verunreinigung getestet werden.

Die Vereinigung Moroccan Guest Houses und die britischen Friends of Morocco Association spendeten Hunderte Holzpaletten. Daraus, erzählt Bar­khouche, hätten die Dorfbewohner Küchen, eine provisorische Moschee und einen Spielplatz errichtet, »um den Kindern beim Umgang mit ihren Traumata zu helfen.«

Für die Kinder hätten die Bewohner eine Holzhütte als Kindergarten eingerichtet, sagt Barkhouche. Aber ein normales Leben sei in den Dörfern nicht möglich.

Etwa 100.000 Mädchen und Jungen sind vom Erdbeben betroffen, schätzt das Kinderhilfswerk Unicef. Viele sind traumatisiert, haben Familienmitglieder, Freunde oder ihr Zuhause verloren. Um den Kindern seines Dorfs Ablenkung zu verschaffen, erinnert sich Barkhouche, seien Pfadfinder aus anderen Teilen Marokkos angereist. Sie waren nicht die einzigen freiwilligen Helfer: Einwohner aus dem ganzen Land fuhren mit Autos voll Lebensmitteln ins Atlasgebirge.

Ein Friseur reiste für zwei Tage aus der Küstenstadt Essaouira an, um den Bewohnern die Haare zu schneiden, zwei Krankenpflegerinnen blieben fünf Nächte, um Verletzte zu behandeln. »Ganz normale Menschen kamen, um zu helfen«, so Barkhouche. Warum sie das taten? Eine Lektion hätten sie während der letzten Monate gelernt, sagt der Gasthausbesitzer dazu: »Es geht um Menschlichkeit.«

Die selbstgebauten Küchen und die Moschee seien immer noch im Einsatz, sagt Barkhouche. Für die Kinder hätten die Bewohner mittlerweile eine Holzhütte als Kindergarten eingerichtet, auch eine Schule würde gerade gebaut. Aber ein normales Leben in den zerstörten Dörfern? Das gebe es nicht.

Auch Abdo Abodrar, der seinen wirklichen Namen nicht veröffentlicht sehen will, lebt seit sechs Monaten im Ausnahmezustand. Sein Haus ist bei dem Erdbeben zu großen Teilen eingestürzt, er, seine Frau und die dreimonatige Tochter sind nur mit Glück mit dem Leben davongekommen. »Seitdem erschrecke ich mich vor lauten Geräuschen, auch Dächer und Wände machen mir Angst«, sagt der 35jährige.

Von der Regierung erwartet er keine große Unterstützung. »Sie hat keinen langfristigen Plan und ohnehin wenig Geld«, meint Abodrar. Von einem Wiederaufbau der Häuser sei in seiner Gegend, weit abgelegen von größeren Städten, nichts zu bemerken. Auch die Straßenarbeiten hätten hier noch nicht angefangen. Und obwohl die Regierung betroffene Familien eigentlich mit 2.500 marokkanischen Dirham monatlich – etwa 230 Euro – unterstützt, habe er selbst davon noch nichts erhalten.

Zurück in Tagmoute, wo die Dorfbewohner zusammen mit den Ehrenamtlichen der British Moroccan Society ein erstes Zelt aufbauen. Es ist ein typisches Campingzelt, Durchmesser etwa vier Meter, gedacht für Wochenenden im Grünen, nicht als Zuhause einer sechsköpfigen Familie. »Glaubt ihr, dass ihr solche Zelte brauchen könnt?« fragt der Leiter des Hilfstrupps die Einwohner zum Schluss. Diese nicken zustimmend: ja, sicherlich.

Die Ehrenamtlichen machen sich Notizen, schreiben auf, wie viele Zelte benötigt werden, bevor sie sich von den Männern und Frauen des Dorfs verabschieden. »Baut die alten Zelte nicht ab«, raten sie ihnen noch. »Benutzt sie als Küche oder als Lagerplatz. Denn wenn der nächste Winter kommt, werdet ihr sie wieder brauchen.«