Montag, 19.06.2023 / 13:02 Uhr

Katastrophe vor Pylos: Widersprüchliche Angaben der griechischen Küstenwache

Schiffe der griechischen Küstenwache in Lesbos, Bild: Thomas v. der Osten-Sacken

Welche Rolle spielte die griechische Küstenwache bei der jüngsten Katastrophe im Mittelmeer?

 

Dieser Frage geht die taz in einem langen und lesenswerten Bericht nach. Hier einige Auszüge:

Es ist kaum zu glauben, dass die Griechen erst am Dienstag um etwa 11 Uhr – und damit etwa 15 Stunden vor der Havarie – von dem Eindringen und der Fahrt des Fischkutters im für die Such- und Rettungsaktionen relevanten griechisch kontrollierten Seeraum im Mittelmeer, die „Search and Rescue Area Greece“ oder kurz „SAR Greece“, wussten. Zu jenem Zeitpunkt hätten die italienischen Behörden ihre griechischen Kollegen davon in Kenntnis gesetzt, so die offizielle Version der griechischen Behörden.

Die Griechen ließen den Fischkutter, kein Sprinter auf dem Meer, in der von ihr kontrollierten SAR-Zone mutmaßlich lange in Richtung Norden einfach weiterfahren, statt einzugreifen. Die offenkundige Strategie: Immerhin fährt das Migrantenboot, will die griechische SAR-Zone nur durchqueren. Das Wirken der Griechen kam einem unsichtbaren Durchwinken auf hoher See gleich. Getreu dem Motto: „Freie Fahrt! Auf Nimmerwiedersehen!“

Offenbar hatte Italien, das von der Postfaschistin und migrantenfeindlichen Giorgia Meloni regiert wird, etwas dagegen. Daher kam der Bescheid aus Rom nach einem Hinweis der italo-marokkanischen Sozialarbeiterin Nawal Soufi, einer Aktivistin für Menschenrechte, die seit Tagen Kontakt mit den Bootsinsassen des Fischkutters hatte.

Doch worauf setzte Griechenland fortan? Auf Verzögerung. Erst um 13.50 Uhr Ortszeit, fast drei Stunden nach der offiziellen Information aus Rom, sei ein Hubschrauber der griechischen Küstenwache abgehoben, um das Fischerboot – angeblich zum ersten Mal – ausfindig zu machen. Dies teilte das zuständige Athener Koordinationszentrum für die Suche und Rettung (LS-ELAKT) mit. Und der dafür ausgewählte Helikopter startete auf einem Stützpunkt in Lesbos, ausgerechnet im äußersten Osten der Ostägäis, um ein Fischerboot mit Flüchtlingen und Migranten im äußersten Westen des von Griechenland kontrollierten Seeraums zu lokalisieren.

Von 15.35 Uhr Ortszeit an begleiteten Patrouillenboote der griechischen Küstenwache und eine Fregatte der griechischen Marine das Schiff. Bei der Fregatte handelt es sich um die „Kanaris F-464“ der griechischen Kriegsmarine.  (...)

Die Flüchtlinge und Migranten auf dem Fischkutter sahen somit ein griechisches Kriegsschiff mit Kanonen statt Rettungsboote. Das dürfte bei ohnehin gefährdeten Bootsinsassen eher Angst geschürt als Vertrauen geschaffen haben, eine unabdingbare Voraussetzung für jede Seenotrettung, wie Fachleute betonen. Ferner erhielten die Bootsinsassen von einem Frachtschiff Wasser und Nahrung statt Schwimmwesten. Keiner der Bootsinsassen hatte bis zuletzt Schwimmwesten. Auch das mutmaßlich ein klares Signal der Griechen an die Besatzung des Fischkutters: „Fahrt weiter nach Italien!“

Schließlich wies das Athener Koordinationszentrum LS-ELAKT nach der Lokalisierung des Fischkutters durch ihren von Lesbos aus gestarteten Hubschrauber ausgerechnet das 40 Meter lange Schiff „920“ der griechischen Küstenwache an, den Fischkutter zu begleiten. Dabei hatte die „920“ nicht nur einen sehr langen Weg vor sich. Sie musste dem weit entfernten Fischkutter sogar hinterherfahren. (...)

In der Folge erreichte das Schiff „920“ der griechischen Küstenwache erst am Dienstag um 22:40 Uhr den Fischkutter, etwa dreieinhalb Stunden vor der Havarie mit vielfacher Todesfolge, so die offizielle Angabe. Es sei jedoch „auf Distanz“ geblieben und beobachtete den Fischkutter diskret. Somit fand wieder keine, nicht einmal eine versuchte, Seenotrettung statt. Um 1.40 Uhr am Mittwochmorgen habe der Kapitän des Fischkutters einen Maschinenschaden gemeldet, so die offizielle Darstellung aus Athen. 20 Minuten später habe das Schiff plötzlich eine starke Schlagseite bekommen, sei gekentert und innerhalb weniger Minuten gesunken.

Stimmen zudem die jüngsten Aussagen von Geretteten, wonach das ominöse Schiff „920“ der griechischen Küstenwache versucht haben soll, mit einem Schlepptau den Fischkutter in die nahegelegenen italienischen oder maltesischen SAR-Zonen zu ziehen, dann wäre dies ein versuchter „Pushforward“, ein Abdrängen von der SAR-Zone des EU-Landes Griechenland in diejenige eines anderen EU-Landes."