Gotthard Günther auf CD

Der Pförtner der Mehrwertigkeit

Kein Entweder-Oder: Gotthard Günther bastelte an der Überwindung der zweiwertigen Logik. Zum 100. Geburtstag des Philosophen, Kybernetikers und Metalogikers. Eine Erinnerung

Was (oder wer) erinnert (sich) an Gotthard Günther? Was, außer dem eingeklammerten Bescheid hinterm Namen - »(Philosoph, 1900-1984)« - gibt es über ihn zu wissen? Kulturelle Gedächtnisse sind kuriose Maschinen. Wer oder was in ihren Wörterbüchern vorkommt, sagt mehr über die Funktionsweisen einer mit sich selbst beschäftigten Erinnerung aus als darüber, was wann wie wo wem wirklich wichtig wäre. Man erlebt das täglich in unserer famosen Informationsgesellschaft.

Wenn ich beispielsweise etwas über jemanden wissen will, der oder die in Deutschland irgendetwas gedacht oder gemacht hat, befrage ich mit Vorliebe die Webseite des ehrwürdigen Munzinger Archivs. Da stoße ich dann auf bedenkenswerte An- und Abwesenheiten, die viel mit dem zu tun haben, was Kybernetiker wie Gotthard Günther »heiße Reserve« bzw. »heiße Redundanz« zu nennen pfleg(t)en - also mit der schattigen Anwesenheit von Zusatzspeichern oder anderen zugeschalteten Funktionselementen, deren Zustand von BeobachterInnen nicht so leicht vom Zustand der tatsächlich gerade in Betrieb befindlichen Elemente des Ganzen unterschieden werden kann.

Rainald Goetz, Niklas Luhmann und Helmut Schelsky (die, kleiner rekursiver Scherz, auch alle drei weiter unten in dem Artikel, der hier gerade angefangen hat, vorkommen) findet man mühelos bei den Munzingern, während Niels Ruf, Diedrich Diederichsen und Gotthard Günther fehlen. Was beweist das? Die Frage ist rhetorisch. Wir sparen uns den Schlenker in die Beweistheorie und stellen lieber fest: Das Interesse an einer Figur wie Gotthard Günther sollte sich nicht schämen, wesentlich ein Schlagwortinteresse zu sein.

»Formale Logik«, »Kybernetik«, »Dialektik« - der Name Günthers evoziert intellektuelle Markenzeichen, die, so scheint es, im Versinken begriffen sind, während gleichzeitig weitgehend funktionsanaloge neue (z.B. »Systemtheorie«) im allgegenwärtigen Gesprächsmeer auftauchen.

Die »heroischen Epochen« von neuen und alten Theorien sind die »heißen Redundanzen« der Kulturgeschichte. »Bewegungen« wie die nie offiziell existierende »kybernetische«, zu der Günther so zusagen »heimlich« gehörte, üben für ein abwechselnd mal geschichtsgeiles, dann auch wieder geschichtsmüdes Denken jenseits von Restauration und Umwälzung, wie es derzeit vom Feuilleton bis zur Uni um sich greift, einen eigentümlichen Reiz aus. So enstehen neue Märchen, Sagen und Legenden. Gotthard Günther, das tapfere Schneiderlein? Warum nicht:

Es war einmal ein kluger Mann, der lebte zu einer Zeit, als die obskure Beschäftigung abseitiger Gelehrter mit der Frage, ob man den diversen Verfahren der Mathematik eine schlüssige Metabegründung zuordnen könne, durch unerwartete Entwicklungen auf so unterschiedlichen Gebieten wie Geheimschrift-Entzifferung, Apparatebau und Elektronik ein Spiegelbild fand. Dessen beachtlicher Verzerrungsfaktor bescherte der darüber zu Recht stark verwunderten Welt mit einem Schlag eine riesige Menge faszinierender Auskünfte über Dinge des Denkens, Rechnens und sogar Seins, von denen bis da-

hin nie und nirgends irgendjemand sich irgendetwas hatte träumen lassen.

Günther, also der oben eingeführte kluge Mann, dessen Glück und Unglück darin bestand, exakt auf einem der Scheitelpunkte jener Entwicklung mit seinen ersten Wortmeldungen an die philosophische Öffentlichkeit treten zu müssen, war ein durchaus systematischer Kopf. Er wäre zweifellos in der Lage gewesen, die übergreifende Geschichte »hinter« seiner speziellen Geschichte zu erzählen, d.h. die vielen Einbettungen und Verschachtelungen nachzuzeichnen, denen seine persönlichen Geistesfrüchte dann rasch in delikate Gefilde mit leckeren Grenzproblemen entwachsen sollten. Die Meta-Geschichte lautet etwa so: Irgendwann im vorgerückten 19. Jahrhundert begannen einige wenige mit dem Stand ihres Faches unzufriedene Leute namens Gottlob Frege, David Hilbert und Georg Cantor damit, der Gesamtmathematikerschaft des Planeten Erde einen immensen Haufen happigster Hausaufgaben zu stellen. Die Optimierung der Formen, in denen man von den ohnehin schon abstrakten Bereichen der Arithmetik, Geometrie und der neu entstehenden Gruppentheorie aus in immer umfassendere logische Bereiche sollte abstrahieren können, war unter diesen Hausaufgaben die wichtigste.

Während man so die seit der Logik des Aristoteles gängigen Kategorien des »Entweder-Oder«, der »Identität« etc. in neue, über eigene Zeichen und Verknüpfungsvorschriften gebietende Quantoren-, Junktoren- und sonstige Logiken überführte, war am Ende exakt das Gegenteil der beabsichtigten Universalisierung und Kompaktifizierung des »Wissens über das Wissen« das konsternierende Resultat. Denn ein Österreicher namens Kurt Gödel bewies in den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts, dass das von Frege und seinesgleichen entworfene, eben noch mit großer Hartnäckigkeit von Bertrand Russell und Alfred N. Whitehead verfolgte Programm namens »formale Logik« nicht im erhofften Sinne abgeschlossen werden konnte.

Gödel zeigte im Rahmen der »erlaubten« Schlussverfahren unwiderleglich, dass eine Metamathematik niemals gleichzeitig konsistent und komplett sein konnte. Tja. Und dann? Gingen alle nach Hause, ließen fürs erste fünfe gerade sein und gossen sich einen hinter die Binde? Von wegen. Eine philosophische Schule nach der anderen, vom Verehrerhäuflein des jungen Wittgenstein im Schoß des logischen Positivismus über die Oxford School bis zur analytischen und postanalytischen amerikanischen Philosophie der Reihe Willard V.O. Quine - Hillary Putnam - Donald Davidson sammelte die Scherben ein.

Generationen stritten über die Bedeutung von Bedeutung, allgemeine Probleme von Metasprachen und Verwandtes. All diese denkerischen Großtaten, und das ist das eigentlich Frappante dabei, traten aber zugleich mehr und mehr in Wechselwirkung mit praktischen Entwicklungen, nämlich mit jenen Automaten und den sie begleitenden Operations- und Instrumententheorien, die das Feld der »Theoretical Computer Science« aufspannten. Das nun war ein ausgesprochen weites, angsteinflößend unbekanntes Feld, das in rasantem Tempo von den Pionieren und Hasardeuren der mathematischen Kommunikations-, Informations- und Künstliche-Intelligenz-Forschung bestellt wurde, all den legendenträchtigen Figuren wie Alan Turing, Claude Shannon, Norbert Wiener, John Von Neumann, Martin Davis ...

Zwischen diesen beiden Reichen nun - zwischen der neospekulativen, aber mit allerlei strikten Formelkalkülen vertrauten Philosophie auf der einen und den Helden der »instrumentellen Vernunft« auf der anderen Seite - sausten bald wie fleißige Eichhörnchen ganze Rudel neugieriger Intellektueller herum, sammelten immer neue glitzernde Wortsplitter wie Nüsse und prassten munter mit den Vokabularen. Prominenteste unter den Nüssen, die von diesen Eichhörnchen benagt wurden, war bald der von Norbert Wiener ersonnene Begriff »Kybernetik«, der für das Ganze der Automatendenkwissenschaften stehen sollte und sich als wahrlich köstliche, aber auch reichlich harte Nuss erwies.

Man verhielt sich, als gäbe es kein Morgen und schon gar kein schnödes Heute, sondern nur noch jenes höchst utopische Übermorgen, an dem der ganze Irrwitz schließlich zum Punkt Omega eines umfassenden Maschinengeistes führen sollte. In dessen Roboterweisheit würde dann u.a. auch der damals zentrale politische Weltgegensatz Ost-West zusammenbrechen, weil das Allwissen des Mega-Elektronenhirns östliche Planwirtschaft und westliche ökonomische »Game Theory« als zwei Seiten derselben, eben »kybernetischen« Medaille aufweisen musste. Eines dieser vielen Spindelchen, die da auf dem Webstuhl des logischen und metalogischen Philosophierens hin- und herschossen, um den Teppich der »kybernetischen Lehre« zu weben, war Gotthard Günther.

Und ganz wie sich's für Grenzgänger gehört, die ihre intellektuellen Kräfte an der Vermittlung zweier ebenso machtvoll auseinander- wie magnetisch aufeinander zustrebender Sphären messen wollen, führte er zwischen der operativen und der spekulativen Seite des großen Prozesses ein originelles Drittes ein. Und siehe, er nannte es: die Formalisierung der Hegelschen Logik.

Schon 1933, im selben Jahr, da Gödels esoterischer, aber wichtiger Aufsatz »Zur intuitionistischen Arithmetik und Zahlentheorie« erschien und Europa ansonsten von eher unerfreulichen Entwicklungen heimgesucht wurde, veröffentlichte Günther sein Buch »Grundzüge einer neuen Theorie des Denkens in Hegels Logik«. In diesem Buch wurzelte eine lebenslange Obsession, die ihn im selben Augenblick mitten in die oben erläuterten Probleme warf, in dem sie ihn andererseits aus den Diskussionen der Zeitgenossen herauskatapultierte. Denn Günther glaubte, ausgerechnet in Hegels »Wissenschaft der Logik« den Keim eines Kalküls gefunden zu haben, mit dem die so genannte Zweiwertigkeit der antiken, nicht-formalen Logik überwunden werden konnte. Diese Zweiwertigkeit, so Günther später, sei den Problemen des kybernetischen Zeitalters einfach nicht mehr angemessen.

»Zweiwertigkeit« bedeutet, dass ein Ding entweder eine bestimmte Eigenschaft hat oder nicht, dass es daneben aber kein Drittes gibt: tertium non datur. Diese Idee, befand Günther, sei eine vergröbernde Verflachung der dialektischen Prozesse, von denen er glaubte, dass sie die gesamte moderne Welt, von den individuellen psychologischen Subjektzuständen bis zur planetaren technologischen Sphäre, auf allen Ebenen regierten.

In seinem 1957 erschienenen Hauptwerk »Idee und Grundriß einer nicht-Aristotelischen Logik« holt Günther aus den Kategorien der Hegelschen Logik so ziemlich alles heraus, was überhaupt herauszuholen ist. Hegels Werk, dem Günther alles zu verdanken meinte, ist aber nicht nur ein großartiges Kompendium dessen, was unterm Namen »Dialektik« noch ganz andere Leute in den produktiven Irrsinn getrieben hat und von Rudolf Borchardt einmal durchaus bewundernd als »Triadenwahn« bezeichnet wurde, sondern vor allem das krasse Gegenteil dessen, was nach dem oben erwähnten Programm Freges als »richtige« Logik galt.

So hatte Günther im Hinblick auf seine denkbare akademische Karriere und die Ernstnahme seiner Arbeit in den Zirkeln der Wortführer das Richtige falsch und das Falsche richtig gemacht. Hegelianer interessierten sich nicht für Kybernetik, Kybernetiker nicht für Hegel. Aus dieser doppelten Isolation erklärt sich vielleicht der dringende, drängende Ton, den man nicht nur in Günthers Schriften, sondern auch in seiner Stimme auf der unlängst erschienenen CD »Lebenslinien der Subjektivität- Kybernetische Reflexionen« vernimmt, wenn er, der die Nazi-Zeit über im Exil gelebt hatte, die deutschen Philosophen der Nachkriegszeit auffordert, sein (nie beendetes) Programm der Formalisierung Hegels voranzutreiben, damit der deutschen Wirtschaft nicht unermessliche Gewinne durch Kybernetik-Lizenzgebühren entgehen.

Der mit Hegel programmierte Computer als Waffe des Wirtschaftswunders: skurril, keine Frage. Günther war ein Original, aber kein Irrer, nicht einmal ein Sonderling. Sein Standort war eine tätige Mitte. Die weitreichenden Fragen, die das Denken und die Denkenden seit Frege aufgeworfen hatten, grub er mit ihnen um. Will man sich, was er war und hinterlassen hat, in Form von Dokumenten zulegen, bekommt man derzeit ein paar Aufsätze, den Torso seines abweisenden, weil fast jesuitische Versenkung fordernden Hauptwerks, eine schmale Monografie bei Suhrkamp, die ein Häuflein Verehrer kompiliert hat, und seit neuestem schließlich besagte CD.

Sie ist vielleicht das gültigste Dokument: Er spricht darauf zu uns wie aus sehr weiter Ferne. Wenn man ihn zeichnen wollte, um ihn, wie es bei solchen Gelegenheiten immer heißt, heutigen Interessierten »näherzubringen«, läge nichts näher als das Überzeichnen. Das Klischee des »verrückten Wissenschaftlers« mit kurzem, auf manchen Fotos wie von innerer Absurdität des darunter verborgenen Denkens gesträubtem weißem Haar, strengen Mundwinkeln und stechendem Blick bietet sich an. Es würde ihn verfehlen. Er war sehr vieles: Hegelforscher, Logiker, Kybernetiker, Herausgeber einer der ersten systematischen Science Fiction-Buchreihen in der BRD sowie last but not least Freund und Bekannter »bedeutender Männer« vom erwähnten Kurt Gödel und dem Gründervater der Science Fiction, Hugo Gernsback, über den einflussreichen Soziologen Helmut Schelsky bis zum Mit-Inaugurator des »radikalen Konstruktivismus« Heinz von Foerster.

Vor allem die scheinbare Ablehnung seines bei aller Strenge immer ein wenig metaphysischen Denkstils verdammt ihn momentan zu jener Daseinsweise unruhiger Geister, die sich im Fehlen einer echten Rezeption ihrer Arbeiten bei gleichzeitigem überraschenden Auftauchen ihres Namens in aktuellen Texten manifestiert. Günther begegnet einem heute vor allem bei Luhmann - und im Theater: »(...) oder die neue Logik / na ja / wollen wir mal nicht übertreiben / dauernd kommt jedenfalls / der Name Gotthard Günther vor / kenne ich nicht / klingt aber irgendwie vielversprechend finde ich«, heißt es bei Rainald Goetz im »Katarakt»-Teil des Stücke-Bands »Festung«. Das »Vielversprechende«, das da benannt ist, sollte man mit dem Wunsch ergreifen, es sich auch einlösen zu lassen. Das heißt: Günther lesen, hören, kennenlernen. Es ist noch lange nicht zu spät.

Gotthard Günther: Grundzüge einer neuen Theorie des Denkens in Hegels Logik. Hamburg 1978

drs: Idee und Grundriß einer nicht-Aristotelischen Logik. Hamburg 1991

drs: Beiträge 1 zur Grundlegung einer operationsfähigen Dialektik. Hamburg 1998

Kurt Klagenfurt: Technologische Zivilisation und transklassische Logik. Eine Einführung in die Technikphilosophie Gotthard Günthers. Frankfurt/M. 1994

Gotthard Günther: Lebenslinien der Subjektivität. Kybernetische Reflexionen. CD, Supposé-Verlag