Straßenkarten oder Routenplaner

Das Ziel ist das Ziel

Straßenkarten sind Kinder des 19. Jahrhunderts. Routenplaner sind modern.

Ein Hoch auf die moderne Technik. Wer einen Routenplaner sein eigen nennt, verfährt sich nicht. Routenplaner sind so etwas wie Bordcomputer für Leute, deren Autos noch nicht voll digitalisiert sind. Man gibt auf einer beliebigen Internet-Suchmaschine »Routenplaner« ein, bekommt ein paar Adressen, gibt Anfang und Endpunkt der Reise an und ob man den kürzesten, den schnellsten oder den bequemsten Weg möchte. Dann wartet man einen Augenblick, und der Computer spuckt eine lange Liste mit Positionen aus: Startpunkt der Reise, Endpunkt, sämtliche Ausfahrten und Autobahnkreuze, wo man abfahren oder die Straße wechseln muss, plus die Abfahrt davor - wo es heißt aufgemerkt, gleich ändert sich was -, plus die wichtigsten Autobahnraststätten, plus die Kilometerzahl - sowohl insgesamt als auch von Ausfahrt zu Ausfahrt -, plus wie lange das alles voraussichtlich dauern wird.

All das ist natürlich topaktuell, der Routenplaner wird ständig aktualisiert, wenn irgendwo eine Baustelle ist, wird das sofort berücksichtigt. Man kann also sicher sein, dass es seine Richtigkeit hat, wenn man vom Routenplaner angewiesen wird, da und dort die Autobahn zu verlassen und eine Bundesstraße zu nehmen. Die Frage stellt sich überhaupt nicht. Den Routenplaner druckt man aus, die Zettel steckt man in die Tasche, steigt ins Auto, fährt los, richtet sich danach, kommt an und steigt aus. So einfach kann Reisen sein. Willkommen in der modernen Welt.

Sich durchfragen? Bin schon mal dagewesen, da musst du erst da und da, Richtung dort und dort fahren, dann fährst du da ab, nimmst dann die So-und-so-Straße, bis hier und da und dann fragst du noch mal jemanden, die Leute da sind voll in Ordnung, alles ganz einfach? Oder Straßenkarten? Der ADAC-Straßenatlas? Wer braucht so was?

Landkarten sind hübsch, zugegeben. Aber das war's. Mehr gibt es zu ihrem Vorteil nicht zu vermelden. Sobald mehr als eine Person anwesend ist, führt die Gegenwart einer Karte zu üblen Auslegungskonflikten. Da geht's lang, nein hier, klar, da die gelbe Straße, da sind wir und wir müssen hier die rote hoch, bis die da auf die grüne trifft, A irgendwas, die heißt dann ab hier E irgendwas, halt mal die Lampe gerade, wo ist denn überhaupt Norden, Norden ist oben, dreh den Plan nicht so blöd, gib mal her - lauter solche Sachen. Außerdem sind Straßenkarten meistens aus den Siebzigern und die Hälfte der Straßen ist nicht eingezeichnet, geschweige denn irgendwelche Baustellen, so dass man gezwungen ist, jede halbe Stunde Verkehrsfunk zu hören, was schon in Deutschland nur bedingt Spaß macht, in Italien aber von vornherein aussichtslos ist.

Und das ist noch nicht alles. Die Karten, die man in Autos vorfindet, sind nicht nur alt, das ganze Prinzip Landkarte ist alt. Das ist nicht mal 20. Jahrhundert, im Prinzip sind Straßenkarten Kinder der geographischen Landerschließung im 19. Jahrhundert: Sie gaukeln eine Übersicht und ein Weltbild vor, das damals vielleicht Sinn machte, aber heute nur die Verhältnisse verschleiert. Das Verständnis des modernen Menschen des 21. Jahrhunderts von Entfernung ist ein anderes als das des Kutschenreisenden vor 200 Jahren. Es gibt nicht mehr nur eine mögliche Geschwindigkeit, weshalb es in die Irre führt, Reise-Entfernungen scheinbar objektiv und maßstabsgetreu abzubilden, als sehe die Welt so aus und man selbst als Minigott könne von oben herunterblicken. Landkarten sind noch nicht einmal analog. Sie sind urtümlich.

Ganz abgesehen davon, dass es auf langen Autofahrten wirklich interessantere Gesprächsthemen gibt als die ständige geographische Rückversicherung. Man kann sich etwa über die deutsche Gegenwartsliteratur im Vergleich mit der Spaniens unterhalten, warum in Österreich die Fahrradläden nur Mountainbikes im Schaufenster haben oder sich über spezialistische Black-Music-Sendungen im Schweizer Rundfunk freuen.

Und wer sich während der Reise tatsächlich intellektuell mit seiner Fahrt beschäftigen möchte, der kann immer noch dazu übergehen, die gegenwärtige ungefähre durchschnittliche Reisegeschwindigkeit auf die, von der der Routenplaner ausgeht, hochzurechnen. Er oder sie kann imaginäre Kurven erdenken, wo sich an Schnittpunkten und x-Achsen ablesen lässt, wann man denn nun endlich dort ankommt, wo man hinmöchte - da sind die Routenplaner noch sehr ungenau. Aber auch das hat sein Gutes. Ein Sonnenaufgang an der ligurischen Küste nach 20 Stunden Fahrt - die man niemals riskiert hätte, hätte man sich nach der Karte gerichtet - ist an psychedelischer Schönheit kaum zu überbieten.