Alltäglicher Antisemitismus in Deutschland

Klimaveränderung

Von

Brandanschläge wie in Düsseldorf und Friedhofsschändungen wie in Schwäbisch Hall sind nur die Spitze des Eisbergs. Der alltägliche Antisemitismus in Deutschland wird nicht wahrgenommen. Wenn nichtjüdische Deutsche meinen, unter sich zu sein, geht es zur Sache. Wenn ich mich dann als Jüdin oute und Kritik äußere, weil es niemand sonst tut, dann war alles ein »Missverständnis«. Oder es heißt: »Ihr Juden seid überempfindlich.«

Seit der »Wende« ist der Ton schärfer geworden. 1990 habe ich in Westdeutschland Jugendarbeit gemacht. Als eine Jugenddisko nicht zum gewünschten Zeitpunkt stattfinden konnte, beschwerte sich ein jugendlicher Pfadfinder mir gegenüber mit den Worten: »Deine Alten haben sie vergessen zu vergasen.« Auch über antisemitische Witze wurde von allen gelacht.

1992. Inzwischen lebe ich in Berlin. Kurz vor Ladenschluss am Kiosk. Die Zeitungsfrau zahlt einer Kundin zu viel Wechselgeld aus. Diese gibt den zu Unrecht erhaltenen Betrag zurück, die Zeitungsfrau bedankt sich. Die entrüstete Reaktion der Kundin: »Na, hören Se mal - wir sind ja hier nicht beim Juden.« Niemand reagiert.

1994. Am Gedenkstein von Moses-Mendelssohn in der Großen Hamburger Straße steht eine Pfarrer-Fortbildungsgruppe. Die Leiterin - Pfarrerin und Psychotherapeutin - ist in sich versunken und spricht über die kleinen Steinchen, die auf dem Gedenkstein abgelegt sind, wie das bei jüdischen Grabsteinen Brauch ist: »Mein Großvater hat immer gesagt, das sind die Steine, mit denen die Juden Jesus umgebracht haben.« Niemand sagt etwas.

1996. Mir fällt auf, dass inzwischen auch alle meine Bekannten und Freunde aus der ehemaligen Ostberliner jüdischen Gemeinde ihre Einträge aus dem Telefonbuch haben löschen lassen - wie Juden in Westdeutschland schon lange vorher.

Dezember 1997. Der Gedenkstein am Ort des ehemaligen Deportationssammellagers in Berlin-Mitte wird zertrümmert. Die Polizei stellt die Ermittlungen nach einiger Zeit ein, weil niemand aus der Nachbarschaft Hinweise geben kann oder will. Ein halbes Jahr später verlesen Leute aus dem jüdischen Jugendzentrum dort die Namen aller aus Berlin deportierten Juden. Einige Nachbarn beschweren sich wegen »Lärmbelästigung«.

April 1998. Ich bekomme die erste Morddrohung auf meinen Anrufbeantworter. Eine Männerstimme mit österreichischem Akzent bezieht sich auf meine Rundgänge zur jüdischen Geschichte und sagt: »Die Neue Synagoge gehört in die Luft gejagt; deine Führungen müssen aufhören und du Judensau gehörst einen Kopf kürzer gemacht.« Eine Anzeige bräuchte ich nicht zu machen, wird mir von der Polizei mitgeteilt, denn sie hätte keinen Erfolg.

Sommer 1999. Einige Wochen vor dem Tod von Ignatz Bubis wird auf dem freien Platz vor dem Roten Rathaus, das stets von Polizisten bewacht ist, ein Schwein mit einem Davidstern, in dem »Bubis« steht, ausgesetzt. Keiner hat etwas bemerkt.

September 2000. Stadtrundgang im Scheunenviertel. Wir stehen vor einem ehemaligen jüdischen Waisenhaus. Noch einige Jahre nach der Wende war hier eine öffentliche Schule. Das Gebäude ist heruntergekommen und steht leer. Vor kurzem wurde es der jüdischen Gemeinde zurückgegeben. Der Stadtführer erklärt: »1991 hat die jüdische Gemeinde von einem Tag auf den anderen die Kinder hier rausgekantet und einen lukrativen Vertrag mit einer Werbeagentur gemacht.« Niemand fragt nach.

Beim jüdischen Online-Magazin Hagalil (www. hagalil.com) gehen täglich antisemitische Mails ein, manchmal mehrere Hundert. Kurz bevor ich diesen Artikel beende, leere ich meine Mailbox. Den Text, der mir ins Auge springt, hat mein Kollege vor einigen Wochen 300 mal erhalten: »Was ist ein Jude in Salzsäure? Ein gelöstes Problem.«

Die Verfasserin betreut die Berlin-Seiten des jüdischen Online-Magazins Hagalil, ist Mitherausgeberin des europäisch-jüdischen Magazins Golem und führt bei »Unterwegs« Rundgänge zur jüdischen Geschichte Berlins durch.