Immer mehr israelische W­issenschaftler sehen sich international Boykotten ausgesetzt

Uni ohne Israelis

Seit Jahren fordert die BDS-Bewegung einen internationalen Boykott gegen israelische Universitäten – in den vergangenen Monaten mit wachsendem Erfolg: Universitäten in mehreren Ländern beenden Partnerschaften und israelische Wissenschaftler berichten, dass selbst langjährige Kollegen sich von ihnen abwenden.

Cambridge. Im Februar sollte die israelische Juristin und Richterin am Obersten Gerichtshof, Daphne Barak-Erez, an der Berliner Humboldt-Universität über Rechtsprechung in konstitutionellen Demokratien diskutieren. Doch dazu kam es nicht: Aktivisten erzwangen den Abbruch der Veranstaltung, indem sie die Professorin mit antiisraelischen Parolen niederbrüllten.

Dass antiisraelische Demonstranten öffentliche Veranstaltungen oder Auftritte von Politikern stören, kam in den vergangenen Monaten oft vor. Weniger bekannt, weil es sich meist abseits der Öffentlichkeit abspielt, ist jedoch, dass seit den Angriffen der Hamas auf Israel vom 7. Oktober vergangenen Jahres und der darauffolgenden Militäroperation der israelischen Armee im Gaza-Streifen weltweit immer öfter israelische Wissenschaftler boykottiert, ausgeschlossen oder diskriminiert werden.

Störungen von Auftritten von israe­lischen Akademikern sind mittlerweile so weit verbreitet, dass an der Hebräischen Universität in Jerusalem spezielle Schulungen entwickelt werden, mit denen Lehrende und Studierende auf Anfeindungen bei internationalen Konferenzen und Aufenthalten im Ausland vorbereitet werden sollen. Bei einer Umfrage der israelischen Akademikervereinigung Israeli Young Academy gab mehr als die Hälfte der Befragten an, dass sie in Anbetracht der derzeitigen Lage derartige Schulungen unterstützen.

»Es entsteht das Bild, dass dem israelischen Wissenschaftsbetrieb ein furchterregender Schlag versetzt wird, dessen Folgen jetzt schon spürbar sind.« Die israelische Tages­zeitung »Haaretz«

Während es im Fall von Barak-Erez offenbar studentische Krawallmacher waren, die den Abbruch der Veranstaltung erzwangen, berichten israelische Wissenschaftler seit dem 7. Oktober auch vermehrt von Diskriminierung durch Kollegen und Universitätsleitungen. Im April veröffentlichte die israe­lische Tageszeitung Haaretz die Ergebnisse einer auf Interviews mit über 60 israelischen Wissenschaftlern beruhenden Recherche, in der sie eine Vielzahl solcher Fälle dokumentierte. Die Wissenschaftler berichten darin von abgesagten Veranstaltungen, E-Mails, die nicht beantwortet werden, langjährigen Kollegen, die die Zusammenarbeit aufkündigen, und Fachzeitschriften, die keine Artikel von israelischen Wissenschaftlern annehmen wollen. »Es entsteht das Bild, dass dem israelischen Wissenschaftsbetrieb ein furchterregender Schlag versetzt wird, dessen Folgen jetzt schon spürbar sind und der besonders junge Wissenschaftler am Anfang ihrer Karriere trifft«, resümiert Haaretz.

Einer der Interviewten ist der Sozialpsychologe Gilad Hirschberger von der privaten Reichman University in der nördlich von Tel Aviv gelegenen israelischen Küstenstadt Herzliya. Im Februar wurde er von einer Konferenz eines Osloer Forschungsinstituts ausgeladen, bei dem er die Keynote-Rede hätte halten sollen. In einem Schreiben, das Hirschberger von seinem norwegischen Kollegen bekam, sei der Schritt unmissverständlich mit Israels Militär­operation im Gaza-Streifen begründet worden. »Ich wurde ausgeladen, weil ich Israeli bin. Eine Person zu benachteiligen, weil sie einer bestimmten Gruppe angehört, ist das, was das Wesen von Vorurteilen ausmacht«, sagte Hirschberger der israelischen Zeitung.

»Ihr begeht einen Völkermord in Gaza«

Die Professorin für Sozialpsychologie an der Universität von Haifa, Ravit Alfandari, berichtete der Haaretz, wie ihr ein Kollege aus Nordirland, mit dem sie an einem Projekt zu häuslicher Gewalt gearbeitet hatte, kurz vor der Abgabe eines Fachartikels die Zusammen­arbeit aufgekündigt habe. Er habe eine Petition für einen Boykott israelischer Universitäten unterschrieben, soll er zur Erklärung gesagt haben. Dann habe er ihr gesagt: »Ich schätze dich sehr, aber ich will nie wieder mit dir zusammen­arbeiten. Das ist auch nicht nur vorübergehend. Ihr begeht einen Völkermord in Gaza.«

In der Umfrage der Israeli Young Academy gaben 46 Prozent der Befragten an, dass Angebote, im Ausland zu forschen oder Vorträge zu halten, nach dem 7. Oktober signifikant zurückgegangen seien. 22 Prozent kreuzten auf der fünfstufigen Skala, mit der sie das Ausmaß der negativen Auswirkungen bewerten sollten, sogar den Höchstwert an.

Solche Boykotte sind nicht nur für einzelne Wissenschaftler ein Problem, sondern auch für die Forschung in Israel insgesamt. Besonders wichtig sind für Israel die Verbindungen in die EU. Seit 1996 ist Israel an den EU-Programmen für Forschung und Innovation beteiligt. Einem Bericht des israelischen Ministeriums für Wissenschaft und Technologie zufolge fand 38 Prozent der israelischen Forschung im Jahr 2023 in Kooperation mit europäischen Wissenschaftlern statt. Diese Zusammenarbeit sieht die israelische Regierung bedroht. Wissenschaftsministerin Gila Gamliel kündigte die Einberufung eines Komitees an, um Maßnahmen gegen die seit dem 7. Oktober wachsende Benachteiligung israelischer Akademiker zu erarbeiten.

»Ein akademischer Boykott ist per Definition ein Angriff auf die Freiheit der Lehre«, sagte die Vizepräsidentin der Universität Haifa, Mouna Maroun. Die Neurobiologin ist selbst arabischer Herkunft und weist den Apartheid-Vorwurf gegen Israel zurück.

Diese Diskriminierungen gehen dabei nicht nur von einzelnen Wissenschaftlern aus, sondern zunehmend auch offiziell von ganzen Institutionen. Am 14. Februar teilte beispielsweise die Universität Oslo in einer öffentlichen Bekanntmachung mit, dass sie keine Kooperationen mit israelischen Universitäten mehr eingehen wolle und eine laufende Zusammenarbeit mit der Universität Haifa suspendiere. In der Entschließung heißt es: »Der Vorstand der Universität verurteilt den Angriff Israels auf Gaza.« Die Angriffe der Hamas auf Israel vom 7. Oktober, bei denen die palästinensische Terrororganisation über 1.000 Menschen ermordete und rund 250 Geiseln aus Israel in den Gaza-Streifen verschleppte, werden in der Erklärung mit keinem Wort erwähnt.

Die vom deutschen Bundestag als antisemitisch eingestufte BDS-Bewegung ruft seit vielen Jahren zum Boykott israelischer Universitäten auf. Sie wirft Israel Apartheid und israelischen Universitäten Mittäterschaft bei der »kolonialistischen Unterdrückung« von Palästinensern vor. In den USA haben in den vergangenen Jahren verschiedene Fachverbände wie die American Anthropological Association, die American Studies Association oder die Middle East Studies Association ihre Unterstützung für den akademischen Boykott Israels erklärt.

»Ein akademischer Boykott ist per Definition ein Angriff auf die Freiheit der Lehre«, sagte dazu die Vizepräsidentin der Universität Haifa, Mouna Maroun, kürzlich im Gespräch mit dem Sender 3Sat, der von den öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten Deutschlands, Österreichs und der Schweiz betrieben wird. Die Neurobiologin ist selbst arabischer Herkunft und weist den Apartheid-Vorwurf gegen Israel zurück.

Liste von Universitäten, die dem Boykottaufruf folgen, wird länger

Doch die Liste von internationalen Universitäten und akademischen Einrichtungen, die dem Aufruf der BDS-Kampagne folgen, wird länger. Sie rea­gieren damit offenbar auf den Druck der studentischen Proteste und Campus-Besetzungen in den vergangenen Monaten in mehreren Ländern: Dort wird stets die Forderung erhoben, dass Universitäten ihre Verbindungen zu ­Israel kappen.

Auch Gegenstimmen gibt es: Über 3.000 Wissenschaftler aus verschiedenen Ländern haben einen am 14. Mai veröffentlichten Brief unterzeichnet, in dem sie sich gegen die »zunehmende Isolation unserer akademischen Kollegen in Israel« wenden. Der »sukzes­sive, oft subtile Ausschluss von israelischen Wissenschaftlern widerspricht den fundamentalen Prinzipien professionellen Verhaltens und der akademischen Freiheit«, heißt es in dem Brief.

Zuletzt rief die Vereinigung spanischer Universitätsrektoren (CRUE), der nach eigenen Angaben 76 Hochschulen angehören, in einer Bekanntmachung vom 9. Mai dazu auf, »Kooperationsvereinbarungen mit israelischen Universitäten und Forschungszentren, die kein festes Bekenntnis zum Frieden und zur Achtung internationaler Menschenrechte abgegeben haben, zu suspendieren«. Was genau mit einem solchen Bekenntnis gemeint ist und welche israelischen Universitäten damit vom Boykott auszunehmen seien, lässt die Erklärung offen. Der Senat der Universität von Barcelona hatte bereits am 8. Mai einem Antrag zugestimmt, in dem »die Auflösung aller institutionellen oder akademischen Beziehungen mit israelischen Universitäten, Forschungsinstituten, Unternehmen und anderen Institutionen« gefordert wird.

Die BDS-Bewegung ist überzeugt, dass keine einzige israelische Universität die von CRUE genannten Kriterien erfüllt. Auf ihrer Website erklärt BDS unmissverständlich: »Die Palästinensische Kampagne zum akademischen und kulturellen Boykott Israels begrüßt die bahnbrechende Entscheidung der Konferenz der spanischen Univer­sitätsrektoren (CRUE), alle Kooperationsvereinbarungen mit israelischen Universitäten und Forschungszentren, die sich nicht zum Frieden und zur Achtung der internationalen Menschenrechte bekennen, zu suspendieren. Keine israelische Universität erfüllt diese Bedingungen.«

»Israels akademische Community zeichnet sich durch eine progressive, liberale, weltoffene und demokratische Grundhaltung aus.« Itay Halevi, Professor für Geochemie am Weizmann-Institut für Wissenschaften

Ähnlich argumentierte die Anthropologin Maya Wind, Autorin des im ­Januar erscheinenden Buchs »Towers of Ivory and Steel: How Israeli Universities Deny Palestinian Freedom«, im sozialistischen US-Magazin Jacobin. Sie schreibt dort, dass »israelische Wissenschaft und Universitäten von Anfang an mit dem siedlerkolonialen Projekt der Eliminierung und Verdrängung verwoben waren«, woran sich bis heute nichts geändert habe.

Für Itay Halevi, Professor für Geochemie am Weizmann-Institut für Wissenschaften in der südöstlich von Tel Aviv gelegenen Stadt Rehovot und Vorsitzender von Israeli Young Academy, sind solche Positionen absurd. »Israels akademische Community zeichnet sich durch eine progressive, liberale, weltoffene und demokratische Grundhaltung aus«, sagt er der Jungle World. »Sie bildet einen Rahmen, in dem offen und kritisch diskutiert wird. Auch über die Politik der israelischen Regierung. Ausgerechnet sie für das Handeln der israelischen Regierung verantwortlich zu machen, ist unsinnig. Ich will meine akademischen Kollegen auf der Welt dazu aufrufen, Kooperationen aufrechtzuerhalten. Wissenschaft lebt vom internationalen Austausch. Wird dieser unterbunden, verschlechtert sich die Qualität der Forschung. Nicht nur in Israel, sondern auch im internationalen wissenschaftlichen Betrieb, zu dem israelische Akademiker einen wichtigen Beitrag leisten.«

Den wichtigen Beitrag Israels zur internationalen Wissenschaft betont auch der israelische Sozialpsychologe Maor Shani, der zum Thema jüdisch-palästinensische Verständigung promovierte und heute an der Universität Osnabrück zur Überwindung interkultureller Konflikte in Schulen forscht. Auch er berichtet davon, wie er an seiner eigenen Universität von einer ­Veranstaltung ferngehalten wurde.

Bei einem sogenannten Brownbag-Treffen sollten sich Studierende und Lehrende beim selbst mitgebrachten Mittagessen über die Rolle von Aka­demikern in den deutschen Debatten über den israelisch-palästinensischen Konflikt austauschen. Nachdem in einem Online-Forum, in dem Teilnehmer vor der Veranstaltung zu dem Thema äußern konnten, antisemitische Äußerungen auftauchten, zu denen auch ein antiisraelischer Boykottaufruf zählte, schlug Shani bei den Veranstaltern und der Universitätsleitung Alarm.

Infolgedessen wurde die Online-Pinnwand gelöscht, von der der Jungle World eine Kopie vorliegt. Die Veranstaltung, die ursprünglich sowohl als Online- als auch Präsenzveranstaltung hätte stattfinden sollen und zu der Shani sich angemeldet hatte, wurde in einen reinen Präsenzmodus überführt.

Kurzfristig erklärten die Veranstalter in einer Rundmail vom 27. März, die der Jungle World vorliegt, dass es sich um eine interne Veranstaltung des Instituts für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien (IMIS) handele, zu der nur Institutsmitglieder Zugang hätten. »Damit war ich faktisch aus dem Teilnehmerkreis ausgeschlossen«, stellt Shani fest, der am Institut für Psychologie forscht und dem IMIS nicht angehört.

Bei bei einer Umfrage der Israeli Young Academy gaben 46 Prozent der Befragten an, dass Angebote, im Ausland zu forschen oder Vor­­träge zu halten, nach dem 7. Oktober signifikant zurückgegangen seien.

Die Universitätsleitung hat auf Nachfrage mit­geteilt, dass niemand von dem Treffen ausgeschlossen worden sei. Von Seiten der Veranstalter heißt es in einer E-Mail an die Jungle World: »Die von uns geplante Diskussion am Institut für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien (IMIS) richtete sich ausschließlich an IMIS-Mitglieder und Studierende des Masterprogramms Internationale Migration und Interkulturelle Beziehungen (IMIB). Die Einladung wurde über die üblichen institutsinternen Kanäle versandt, genauso wie die kurzfristige Mitteilung über das veränderte Format.« Allerdings war Shani nach eigenen Angaben als Nichtmitglied von IMIS bereits zu der Veranstaltung angemeldet, nachdem er eine Einladung über den Verteiler seines Fachbereiches erhalten hatte.

»Ich wollte mich an der Veranstaltung beteiligen, weil mich das Thema als ­Israeli in Deutschland einerseits persönlich betrifft und es andererseits auch für meine Forschung relevant ist. Mir hat zwar niemand explizit gesagt, dass ich als Jude oder Israeli nicht kommen darf. Doch letztendlich lief alles darauf hinaus, dass ich, als derjenige, der auf die antisemitischen Äußerungen im Vorfeld des Treffens aufmerksam gemachte habe, am Ende aus dem Teilnehmerkreis ausgeschlossen war«, so Shani.

Ausschluss vom Diskurs

Dieser Sichtweise schließt sich die Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus RIAS an, die das Geschehnis als judenfeindlichen Vorfall regi­strierte. »Es macht sehr stark den Eindruck, dass man sich der Auseinandersetzung mit Antisemitismus entledigt hat, indem man die Person, die auf an­tisemitische Kommunikationen hingewiesen hat, aus dem Treffen ausgeschlossen hat. Solche Fälle haben wir immer wieder«, sagte Helge Regner von RIAS Niedersachsen der Jungle World.

Recherchen dieser Zeitung haben ergeben, dass drei der vier Veranstalter des Treffens am IMIS eine Resolution mit dem Titel »Deutschlands Reaktion auf den Israel-Gaza-Krieg entspricht nicht seinen eigenen Prinzipien« vom 26. März unterzeichnet haben, welche kritisiert, dass ein »leichtfertiger Umgang mit dem Begriff« Antisemitismus und die vom deutschen Bundestag ratifizierte Arbeitsdefinition von Antisemitismus der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA) zu einer »Verengung des Diskurses« in Deutschland beitrügen. An eben diesem Diskurs sollen israelische Wissenschaftler, wenn es nach vielen anti­israelischen Demonstranten weltweit geht, am besten gar nicht mehr be­teiligt sein.