Tag der Einheit

Antisemitische Anschläge gehören zum 3. Oktober wie Bratwurst, Bier und Politikerreden.

Mit Straßenfesten und Festakten wurde in Berlin, Dresden und der ganzen Republik zum zehnten Mal der Tag der deutschen Einheit begangen. Politiker aller Parteien rühmten sich ihrer Verdienste um die Wiedervereinigung. Zur gleichen Zeit zeigte ein Teil des Volkes, wer das Zusammenwachsen des Volkskörpers stört.

Knapp drei Monate nach dem noch immer nicht aufgeklärten Sprengstoffattentat auf jüdische Einwanderer aus der Sowjetunion wurde Düsseldorf erneut zum Schauplatz eines antisemitischen Anschlags. In der Nacht zum 3. Oktober warfen Unbekannte einen Stein und mehrere Molotowcocktails auf die gläserne Eingangstür der Synagoge. Eine Passantin konnte das Feuer löschen. Zum Tatzeitpunkt war - trotz eines umfangreichen Sicherheitskonzepts - kein Polizist vor Ort, wie ein Sprecher der Düsseldorfer Polizei bestätigte.

Die Ermittlungen hat die Bundesanwaltschaft in Karlsruhe übernommen, da der Anschlag dazu geeignet sei, »die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland zu beeinträchtigen«. Dass in Deutschland in erster Linie die Sicherheit von Jüdinnen und Juden und von jüdischen Einrichtungen gefährdet ist, dass die Bedrohung an Tagen wie dem 3. Oktober besonders stark ist, darauf wurde nicht hingewiesen.

Auch keiner der Repräsentanten Deutschlands bei den offiziellen Feiern zum Tag der Einheit in Dresden fand den Anschlag auch nur einer Erwähnung wert. Allein der Vorsitzende des Zentralrats der Juden in Deutschland, Paul Spiegel, kam am Rande des Festakts auf den Anschlag zu sprechen und fragte, »ob es richtig war, in Deutschland jüdische Gemeinden wieder aufzubauen«. Der in Düsseldorf lebende Spiegel hatte kurze Zeit vor dem Anschlag eine Bombenattrappe mit der Aufschrift »kommt Zeit, kommt Rat, kommt Attentat« zugeschickt bekommen.

Es blieb nicht bei dem Anschlag von Düsseldorf. In der Nacht zum Einheitsfeiertag wurden auf dem jüdischen Friedhof in Schwäbisch Hall elf Grabsteine mit roter Farbe und Hakenkreuzen beschmiert. Zur gleichen Zeit warfen Unbekannte einige Fenster des Museums in der KZ-Gedenkstätte Buchenwald ein und besprühten Gedenktafeln mit Hakenkreuzen. In Hannover wurden Mitglieder der jüdischen Gemeinde telefonisch bedroht.

Zwei Nächte später malten Unbekannte einen Galgen auf den Davidstern vor der Synagoge in Potsdam. Zeitgleich ritzten unbekannte Täter in das Portal der einstigen Synagoge in Halle sechs Hakenkreuze. Am selben Tag verkündete die Stadt Halle, dem Schriftsteller Martin Walser den Preis »Das unerschrockene Wort« verleihen zu wollen.

Bereits am 30. September, dem Tag des jüdischen Neujahrsfestes, hatten zwei nur mit Springerstiefeln bekleidete Skinheads versucht, die Synagoge im Berliner Stadtteil Prenzlauer Berg zu stürmen. Die Nackten konnten von Sicherheitsmännern der Gemeinde gestoppt werden, nicht aber von den wachhabenden Polizisten. Die Polizei konnte dafür einen schnellen Ermittlungserfolg vorweisen: Bereits gut eine Stunde nach dem Vorfall gab sie bekannt, dass es sich nicht um eine rechtsextremistische Tat gehandelt habe. Im offiziellen Polizeibericht wurde der Übergriff nicht erwähnt.

Während mittlerweile Politiker aller Parteien mit den immer gleichen Worten ihre Bestürzung ausdrückten, wurden in den frühen Morgenstunden des 6. Oktober zwei Scheiben der Synagoge in Berlin-Kreuzberg eingeworfen. Der Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde zu Berlin, Andreas Nachama, erinnerte in einer Stellungnahme vor der Synagoge an die Worte des ehemaligen Stadtkommandanten von Berlin, Lucius D. Clay, der die Deutschen nach der Shoah daran messen wollte, wie sie künftig mit ihren Minderheiten umgehen würden. In diesem Zusammenhang verwies Nachama auf die mindestens 90 Todesopfer rassistischer Gewalt seit der Wiedervereinigung.

Im wiedervereinigten Deutschland gehören antisemitische Angriffe ebenso zur Normalität wie von schwer bewaffneten Sicherheitskräften bewachte jüdische Kindergärten, Altersheime und Synagogen. Schon im Mai 1990 hatte der Soziologe Detlev Claussen in der taz festgestellt, dass der Wiedervereinigungsprozess von antisemitischen »Scheußlichkeiten« begleitet werde. Er wies auf Wahlkampfveranstaltungen der PDS hin, bei denen Gregor Gysi mit »Juden raus«-Rufen empfangen wurde. Und es blieb nicht bei verbalen Attacken.

In Berlin beschmierten Unbekannte jüdische Gräber auf dem Ostberliner Dorotheenfriedhof. Unter anderem wurde das Grab Bertolt Brechts mit der Aufschrift »Saujud« verunstaltet - einen Tag vorm Treffen des Jüdischen Weltkongresses in Berlin, auf dem sich der selbstbewusste Kanzler der Einheit die vorsichtigen Mahnungen der jüdischen Repräsentanten anhörte. »Die Umfunktionierung der Moral zum dekorativen Beiwerk von Machtpolitik ließ sich geschickter nicht inszenieren als in Berlin«, schrieb Claussen damals über den Umgang deutscher Politiker mit den jüdischen Vertretern.

In den nächsten Jahren zeigte sich, dass die Befürchtungen, die deutsche Wiedervereinigung könne zum Erstarken des Antisemitismus führen, mehr als gerechtfertigt waren. Besonders an nationalen Festtagen wie dem 3. Oktober sowie an jüdischen Feiertagen häuften sich die antisemitischen Übergriffe. Eine unvollständige, auf Berlin und das Umland beschränkte Auswahl verdeutlicht dies:

1992 wurden Rechtsextremisten zum jüdischen Neujahrsfestes aktiv und malten Hakenkreuze auf die Mauer des jüdischen Friedhofs in Berlin-Weißensee. Im selben Monat wurde - weder zum ersten noch zum letzten Mal - ein Brandanschlag auf die jüdische Baracke der Gedenkstätte Sachsenhausen verübt. Am 2. Oktober 1993 beschmierten Rechte das Gästebuch sowie das ehemalige Krematorium der KZ-Gedenkstätte Ravensbrück und bedrohten eine Beschäftigte der Gedenkstätte. In Berlin wurde das Mahnmal für die deportierten Juden am S-Bahnhof Grunewald mit zwei Schweineköpfen geschändet.

Auch die Synagoge in Berlin-Kreuzberg war in der Vergangenheit mehrfach das Ziel militanter Antisemiten. Im November 1993 wurden - zum siebten Mal - die Scheiben der Synagoge eingeworfen. 1994 wurde am nationalen Einheitstag in Berlin der jüdische Friedhof in der Prenzlauer Allee geschändet. Im Jahr darauf verübten Unbekannte einen Anschlag auf das Holocaust-Mahnmal am Anhalter Bahnhof. Fünf von 16 Skulpturen wurden zertrümmert. Wenige Tage darauf wurde es erneut geschändet. Das Mahnmal war erst am 30. September aufgestellt worden. Im Oktober 1996 wurden Skulpturen, die eine Woche zuvor am Bahnhof in Oranienburg zur Erinnerung an die Holocaust-Opfer aufgestellt worden waren, schwer beschädigt. Im Oktober 1997 wurde der jüdische Friedhof in Berlin-Weißensee geschändet.

Im achten Jahr der Wiedervereinigung erreichten die antisemitischen Angriffe eine neue Qualität: Ende September 1998 versuchten Unbekannte in Berlin einen Sprengstoffanschlag auf das Grab Heinz Galinskis, des ehemaligen Vorsitzenden des Zentralrates. Der Versuch schlug fehl. Im Januar 1999 erfolgte ein zweiter Versuch, bei dem die Grabplatte vollständig zerstört wurde. Wiederholt beschädigten Unbekannte 1998 das Mahnmal für die deportierten Juden in Berlin-Mitte und das Denkmal für das jüdische Altersheim. Außerdem wurde der jüdische Friedhof in Prenzlauer Berg geschändet. 1999 demonstrierten am Tag vor den deutschen Einheitsfeierlichkeiten Rechte vor der Neuen Wache in Berlin gegen das geplante Holocaust-Mahnmal. Tags darauf zerstörten unbekannte Täter 103 Grabsteine auf dem jüdischen Friedhof Berlin-Weißensee. Am selben Wochenende wurde das Denkmal zur Erinnerung an die Deportation der Berliner Juden an der Putlitzbrücke mit Hakenkreuzen besprüht.

Größere Proteste blieben, ebenso wie in diesem Jahr, aus.