Frédéric Beigbeders »99 francs«

Begrenzung der Kampfzone

»99 francs«, ein Roman in der Houellebecq-Nachfolge, beklagt sich über das schreckliche Leben in der Werbebranche.

Es gibt Bücher, die man liest, wie man ein Glas Wasser hinunterstürzt. »99 francs« gehört zu dieser Sorte Literatur. Sein Autor selbst schreibt etwa auf Seite 100: »Seit einer Stunde lesen Sie dieses Buch (wenn Sie langsam lesen, seit zwei Stunden) ...« Um die literarische Qualität des 280-Seiten-Titels ist es entsprechend bestellt.

Dennoch gehört das Buch, das nicht nur »99 francs« heißt, sondern auch 99 Francs kostet, derzeit zu den meistzitierten, und sein Autor Frédéric Beigbeder ist ständiger Gast auf fast allen Fernsehkanälen. Es sind vor allem das Fernsehen und die mit ihm verbundene Kultur, die Beigbeder zum Autor von Gewicht aufgebaut haben - und viel weniger die Literaturkritiker der Zeitungen, die ihn zwar fast alle erwähnen, seinen Roman aber in der Regel rasch abfertigen. Neben der TV-Kultur ist es die Werbeindustrie, die mit »99 francs« in die Welt der Literatur einbricht. Denn einerseits ist der Erfolg von »99 francs« einem geschickten Marketing zu verdanken; zum anderen handelt der Einwegroman im Wesentlichen von der Lebenswelt ebenjener Branche.

Auch Bestseller-Autor Michel Houellebecq trommelt für »99 francs«. Houellebecq hat Beigbeder, der sich am Ende seines Buches artig bei seinem Mentor bedankt, zu diesem Roman ermuntert. Und Houellebecq ist es auch, der das Erscheinen des Buches in den Spalten des Nouvel Observateur als intellektuelles Ereignis angekündigt hat.

Houellebecq gilt mit seinen in der zweiten Hälfte der neunziger Jahre erschienenen und mittlerweile ins Deutsche übersetzten Romanen »Ausweitung der Kampfzone« und »Elementarteilchen« als Protagonist einer neuen Literatur, von der auch Beigbeder geprägt wurde. Es handelt sich um eine besonders graue und schonungslose Spielart des Realismus.

Vor Houellebecq ähnelte der literarische Realismus mal mehr, mal weniger dem engagierten Reportagestil. Die neuen Realisten haben das Engagement durch den Zynismus ersetzt, den teilnehmenden Blick durch den alles durchdringenden Röntgenblick, der Romancier vom Schlage Houellebecqs ist an keinen gesellschaftlichen Sinn mehr gebunden. So beschreibt Houellebecq in »Elementarteilchen« ebenso ausführlich Verwesungsprozesse einer Leiche wie, auf denkbar lustlose Weise, Sexualszenen und streut immer wieder wissenschaftlich klingende, soziobiologische Betrachtungen in seinen Roman ein. Ziel ist, eine im Grunde nicht lebenswerte Umwelt so nüchtern und distanziert wie irgend möglich darzustellen. Motiviert wird das Ganze mit einer Grundthese, die da lautet, die Vorherrschaft der individuellen Freiheit und der freien Sexualität habe die Gesellschaft zerstört und den marktwirtschaftlichen Krieg aller gegen alle entfesselt - ohne dass der Autor hierzu irgendeine Form von Alternative (beispielsweise religiöser, konservativer oder faschistischer Art) anböte.

Dieselbe Grundhaltung nimmt auch Beigbeder ein, der freilich bei weitem nicht so sicher und präzise schreibt wie Houellebecq und seine Philosophie auch nicht so plausibel verkaufen kann wie dieser. »99 francs« ist nicht das erste Buch des 35jährigen; seit 1997 erschienen von ihm unter anderem Erzählungen wie »Ferien im Koma« und die »Novellen unter Ecstasy«, er betätigte sich auch als Literaturkritiker in der Regenbogen-Zeitschrift Voici, die zum Primitivsten gehört, was der französische Medienmarkt zu bieten hat.

Sein Anschauungsmaterial für »99 francs« entnimmt er der Welt der Werbung, wo Beigbeder bisher zu Haus war. Bis zum Sommer dieses Jahres hat er in einer Agentur gearbeitet, wo ihm, so stellt er es jedenfalls in der Öffentlichkeit dar, (wunschgemäß) wegen des Erscheinens von »99 francs« gekündigt wurde. Andere Stimmen behaupten freilich, er sei nur deshalb gegangen worden, weil er nicht mehr zur Arbeit erschienen war, um sich ganz der Werbekampagne in eigener Sache widmen zu können. Jedenfalls kündigt der Autor gleich auf der ersten Seite seiner »99 francs« kokett an: »Ich schreibe dieses Buch, um mich feuern zu lassen. Wenn ich kündigen würde, dann könnte ich keine Abfindungszahlung kassieren.«

Ausführlich, wenngleich nur anfangs in provokanter und bald in stumpfer Weise, schildert der über sich selbst mal in der dritten Person und mal in der zweiten Person Singular (»Du machst, Du nimmst wahr ...«) schreibende Autor - der Held heißt für die Dauer der Erzählung Octave Parango, aber die tatsächlichen Orte der Handlung sind deutlich erkennbar - sein luxuriöses Leben als junger, hoch bezahlter Werbemanager: schnelle Autos, Kokain (sehr viel Kokain) und Prostituierte - das ganze Universum des Bret Easton Ellis also, dem zweiten Paten von »99 francs« neben Houellebecq. So bestreitet Beigbeder in der Mitte des Buches vier Seiten mit der Aufzählung und Beschreibung der Markenprodukte, mit denen er sich kleidet und seine Wohnung ausstattet. Natürlich hat der Held auch ein Problem: Er ist unfähig zu lieben - soeben hat er seine schwangere Freundin Sophie zum Teufel geschickt, aber an der Seite des Call-Girls Tamara wird er auch nicht glücklich. Jetzt muss immer mehr Kokain her, und der Niedergang beginnt. Man sieht den jung-dynamischen Werbemanager mit aus der Nase schießendem Blut aus einer Besprechung rennen. Beinahe verpatzt er einen millionenschweren Vertrag mit dem wichtigsten Kunden der Agentur, dem Milchwaren-Hersteller »Madone« (unschwer als Danone zu identifizieren).

Octave hat mehr und mehr das Gefühl, in einem goldenen Käfig zu leben. Anfänglich sagt er sich, man müsse »in ein Flugzeug einsteigen, um es zu einer Richtungsänderung bringen zu können«, und sieht sich als Rebellen im System - dabei auf die Bilder von Anthony Blair und Daniel Cohn-Bendit zurückgreifend. Doch rasch erkennt er, dass seine Chefs seinen rebellischen Gestus als reizvolle Koketterie zu schätzen wissen, als kreatives Stimulans. Die Kritik Octaves wird heftiger, und in penetranter Weise vergleicht er seinen Job in der Werbebranche ein ums andere Mal mit der Propaganda Goebbels' und Hitlers.

Nach 200 Seiten eröffnen sich schließlich für das Romanpersonal zwei Auswege: Während der Dreharbeiten für einen Werbefilm in Florida beschließen Octave und sein Kollege Charlie, angetrunken in einem Nachtclub in Miami sitzend, an einem »Schuldigen« für den Zustand der Welt ein Exempel zu statuieren. Wer aber ist schuldig? Die US-amerikanischen Rentner, beschließen die beiden Akteure, da diese über die spekulativ angelegten Kapitalien der US-Rentenfonds die Kapitalmärkte kontrollieren und die Welt beherrschen. So dringen sie in die Villa einer amerikanischen Renterin in Miami ein, die sich einen Vortrag von Octave anhören muss - in dem dieser seine Aktionsmethode mit jener des französischen Schriftstellers Louis-Ferdinand Céline vergleicht, der in den dreißiger Jahre die Welt auf der Suche nach einem Schuldigen für das Elend bereiste, bevor er Antisemit wurde und sich so die Antwort auf die Schuldfrage selbst erteilte - und anschließend von den Protagonisten ermordet wird. Diese werden in Cannes verhaftet, als sie gerade das Podium besteigen, um auf dem Festival des Werbefilms einen Preis für den besten Spot entgegenzunehmen. Ihr Weg endet in einer Vip-Gefängniszelle.

Die Ex-Freundin des Helden, Sophie, und sein ehemaliger Vorgesetzter Marc Maronnier - der Sophie inzwischen »erobert« hat, obwohl Octave sie angestrengt zurückzugewinnen suchte - wählen einen anderen Ausweg. Sie fingieren einen gemeinsamen Selbstmord. Doch alsbald erfährt man, dass sie nicht tot sind, sondern in einem abgeschirmten Paradies auf den karibischen Kaiman-Inseln Zuflucht gefunden haben. Dort lebt eine ganze Reihe von Prominenten und Reichen, die ihre bisherige Existenz satt hatten und daher ihren Tod vortäuschten: Lady Diana und ihr Liebhaber Dodi al-Fayed, Elvis Presley, Kurt Cobain, John F. Kennedy ... Wer in dem Kokospalmenreich lebt, darf nie wieder in die richtige Welt zurückkehren. So erkennen Sophie und Marc am Ende der Geschichte, dass auch dieses Dasein bloß ein Gefängnis ist, in dem es keine Abwechslung, keine Freiheit gibt und in der zu allem Überfluss die Lebenserwartung künstlich auf 120 Jahre verlängert wurde. Marc sucht schließlich den Freitod, indem er sich im Meer ertränkt.

An dieser Stelle, in der man Octave im Gefängnis schmoren und Marcs Lungen sich mit Salzwasser füllen sieht, wird der Text mehrfach von dem Slogan »Keine Alternative zur aktuellen Welt« unterbrochen sowie von Ziffern und Fakten, die auf die Ungerechtigkeit in der Welt (vor allem der »Dritten Welt«) hinweisen. Damit endet die Erzählung, die schließlich doch nur die alte zynische Weisheit erneuert, das Leben sei zwar schrecklich, aber auch nicht zu ändern.

Frédéric Beigbeder: 99 francs. Grasset, Paris 2000, 282 S., FF 99