Neue Drum'n'Bass-Alben

Morgen war schon gestern

Plötzlich ging das Drum'n'Bass-Imperium unter, jetzt schlägt es noch mal zurück - mit neuen Alben von Photek und Roni Size.

Es ist noch nicht allzu lange her, da galt Drum'n'Bass als der Sound der Zukunft. Produzenten dieser Musik wurden nicht müde, in jedem Interview zu betonen, dies sei der Klang der Zukunft, die avancierteste Musik, die man zur Zeit am Rechner herstellen könne, nichts komme dem auch nur ansatzweise nahe. Hier würden die Computer an die Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit getrieben, the sky's the limit, das einzige, was dem im Weg stehen könnte, seien die Beschränkungen der Programme. Deshalb - so wurde damals auch kolportiert - würden Hersteller von Musiksoftware ihre Programme auch kostenlos Drum'n'Bass-Produzenten in die Hand drücken, damit die ein bisschen damit herumspielen könnten, um Unzulänglichkeiten zu eruieren, auf die die Schreiber der Software niemals gekommen wären.

So viel Bedeutung kam natürlich auch nicht ohne genauso avancierte Theoriebildung aus. Manche hielten Drum'n'Bass für den Soundtrack des Übergangs von der sozialen Fragmentierung in die völlige Desintegration, und manche für das genaue Gegenteil. Sei's drum. Wenig altert so schnell wie die Zukunft. Nach nicht allzu langer Zeit hatte sich das Genre eingespielt - so ergeht es ja allem, was neu und frisch ist. Es gab einen bestimmten Grundrhythmus, es gab die dazugehörigen Sounds, und es gab Unterabteilungen.

Photek und Roni Size standen für die zwei Pole des Drum'n'Bass: Düster, durchdacht und vom Techno kommend der eine, knallig Voll-auf-die-Zwölf und vom HipHop, Jazz, Soul und Funk herkommend der andere.

Photek war die Mensch-Maschine. Seine Stücke hoben sich von allen anderen ab, so überirdisch technoid-perfekt strahlten sie. So sehr, dass man sich schon große Mühe geben musste, wollte man dazu noch tanzen. So ganz war man dann doch noch kein Cyborg. Photek gab seinen Stücken konzeptionelle Strenge. Japanischer Schwertfilm, Überwachungskameras, Ufos standen für Macht, Entfremdung und Genuss. Wie ein Abziehbild entsprach er dem Klischee des blassen Bedroom-Produzenten, der in seinem Zimmer herumsitzt und an seinem Computer frickelt. Für DJ-Magazine ließ er sich auf Autorennstrecken fotografieren, für japanische Computerspiel-Hersteller produzierte er den Soundtrack für ein Autorennen-Spiel.

Roni Size und seine Posse rund um die Label V-Recordings und Full Cycle standen in etwa für das Gegenteil. Sie waren streetwise, hatten eine Rave-, Reggae- und HipHop-Sozialisation, und ihre Tracks eigneten sich vor allem zum Tanzen. Während Photek möglichst alles selbst machte - Musik, Management, Label schmeißen, Schuhe zubinden -, hatte die Full Cycle-Posse einen kollektiven Ansatz. Der eine hat diesen Hintergrund, der andere jenen, zusammen machen wir die beste Musik der Welt. Sie waren die ersten, die Drum'n'Bass als Band auf die Bühne brachten und damit auf Tour gingen.

»Reprazent« nannte sich das Projekt, das die volldigitalisierten Sounds aus den Studios holen sollte. 600 000 Stück verkauften sie von ihrem Debüt.

Es sollte das einzige Drum'n'Bass-Album bleiben, dem größerer Erfolg beschieden war. Das ist nun alles drei Jahre her. Und dass Roni Size und Photek nun überhaupt wieder auf der Bildfläche erscheinen und neue Alben abliefern - anstatt zu verschwinden, wie so viele andere Heroen vergangener Tage, die jetzt Plakate für die Helden des Hier und Jetzt kleben müssen, in der Reha sind oder in irgendwelchen Kneipen herumsitzen und ihren Kumpels erzählen, wie sie damals Madonna bei der MTV-Party getroffen haben -, liegt ohnehin nicht an der Musik, sondern an dem Rest, der von Drum'n'Bass übrig geblieben ist: das Business-Modell.

Wie überall, ob in Werbeagenturen, Antifa-Gruppen oder besetzten Häusern: Auch die Drum'n'Bass-Szene baute ihr Gemeinschaftsgefühl darüber zusammen, von irgendjemanden verraten und verkauft worden zu sein. Das war Mitte der Neunziger, das letzte große Ding war gerade ausgebrannt und damit dies nicht noch mal passierte, wurde ein strenger Verhaltenskodex entwickelt, an den sich auch tatsächlich alle hielten: Jeder, der sich an die Industrie verkauft, gehört der Industrie und wird verstoßen. Wenn die Industrie etwas will, soll sie eine Weile vor der Tür stehen bleiben und mit den Scheckbüchern wedeln. Denn wir brauchen sie nicht, und das sollen sie merken. Schließlich dürfen sie reinkommen, und wenn wir etwas unterschreiben, dann nur einen Vertrag, den wir aufsetzen.

Daran hielt sich die Musikindustrie auch, und viele Künstler bekamen haufenweise Geld, volle künstlerische Freiheit und behielten das Recht, auf ihren eigenen kleinen Labels weiter unter ihren Namen Schallplatten zu veröffentlichen. Roni Size und seine Bristoler Jungs kamen bei Talking Loud unter, Photek bei Virgin. Beide mit Verträgen über mehrere Alben und prima Konditionen - kein Wunder, die Plattenfirmen gingen ja davon aus, in nicht allzu ferner Zukunft, aber auf jeden Fall noch vorm Ende des Jahrtausends, werde die Erde zu einer Drum'n'Bass-Welt mutieren, wo alle anderen Musikstile mangels Zukunftsfähigkeit verschwunden wären. David Bowie nahm ein Drum'n'Bass-Album auf, die Sportschau hatte in ihrem Trailer Drum'n'Bass.

Photek kaufte sich einen Ferrari. Tja, und nun, drei Jahre später, ist Drum'n'Bass weg. Wenigstens fast.

Roni Size und Photek gibt es allerdings noch. Und die sitzen jetzt da mit ihren Verträgen und ihrer künstlerischen Freiheit und machen, was sie wollen. Die neue Reprazent-Platte ist perfekter Drum'n'Bass. Das rollt, die Bässe sind fett, und im Unterschied zu den meisten anderen Platten des Genres ist die Übereinanderblendung von Musik und Vocals ähnlich stimmig wie im HipHop, mit dem Unterschied, dass die Stimme nicht so sehr im Mittelpunkt steht. Sie ergänzen sich jedoch und arbeiten nicht gegeneinander, wie es sonst des öfteren der Fall ist. Method Man vom Wu Tang-Clan ist zu Gast, Zack La Roca von Rage Against The Machine und Rahzel, die Human Beatbox der Roots. Die Sängerin Onallee ist regulärer Teil von Reprazent.

Photek macht House. Mit der gleichen manischen Genauigkeit. Nur noch ein Stück auf der Platte hört sich nach Drum'n'Bass an. Zwei Stücke sind sogar Deep House. Mit Gesang und mit Gefühl. Ausgerechnet Photek, derjenige, der sein Label Science nannte und wie kein zweiter die Idee der Breakbeat-Wissenschaft verkörperte. Er sagt jetzt, damals habe er ein bisschen zu viel auf den Bildschirm geschaut und nicht genügend auf die Musik gehört. Mitunter hat es noch die Klaustrophobie evozierenden Sounds, aber meist von einem recht euphorischen Housebeat unterlegt. Bei zwei Stücken singt Robert Owens, eine House-Legende, der schon im Chicago der späten Achtziger seine Stimme und seine Songwriter-Fähigkeiten dazu einsetzte, drogen-ekstatischen Tanzflächen Seufzer der Hingabe zu entlocken.

Ist das jetzt gut, weil es einen überrascht, weil das Photek ist, und man sich eigentlich dachte, dieses Kapitel sei abgeschlossen, oder ist es gut, weil es gut ist?

Photek: »Solaris«. Science (Virgin)
Roni Size/Reprazent: »In The Mode«. Talking Loud (Universal)