Zehn Jahre deutsche Einheit

Nichts ist identisch

Ein Abriss über den migrantischen Widerstand in den neunziger Jahren.

Zur Feier des Jahrtausends brachte der Spiegel dieses Jahr einen Bildband heraus, in dem alle Titel seit Bestehen des Magazins noch einmal abgedruckt waren. Ein Cover aber war geschwärzt: Die Ausgabe 16/97 trug den Titel »Gefährlich fremd«, und die Aufmachergeschichte lief darauf hinaus, die Vorstellung einer multikulturellen Gesellschaft wegen des Fundamentalismus von MigrantInnen für gescheitert zu erklären.

Interessant ist die Schwarzstelle deshalb, weil damals eine gewisse Aufregung über den offensichtlich rassistischen Titel die Linke beherrschte. Plötzlich begrub ausgerechnet der Spiegel jenes multikulturelle Projekt, das man selbst so heftig kritisiert hatte.

Die Frau jedoch, die mit angeschwollener Halsschlagader als türkische Nationalistin präsentiert wurde, erfuhr später juristische Genugtuung: Das Bild war nicht, wie der Kontext suggerierte, bei einer nationalistischen Kundgebung, sondern in Solingen, auf einer der Demos gegen den rechten Brandanschlag vom Mai 1993, entstanden.

Dieses Ereignis bildet für viele Migrantinnen und Migranten der zweiten oder dritten Generation den elenden Ausgangspunkt ihrer Politisierung. Nicht wenige planten, Deutschland ganz zu verlassen, andere ließen sich im Reisebüro Flugtickets mit offenem Datum ausstellen. In aller Deutlichkeit brachte der Solinger Anschlag sämtliche Befürchtungen seit dem Mauerfall zum Ausdruck. Die versammelte Wut aber, die bei der Demo deutlich wurde, sollte nichts weiter als ein historisches Augenblinzeln bleiben.

Doch selbst wenn der migrantische Widerstand in den neunziger Jahren kaum Schlagkraft entwickeln konnte, nimmt die Kritik an der vermuteten Wehrlosigkeit auch bei Linken Züge an, die unerträglich sind. Ein Beispiel: Als vor knapp zwei Wochen beim Treffen des Bundeskongresses entwicklungspolitischer Gruppen (Buko) in Berlin ein bekennender und kenntnisreicher Antifaschist über die rechte Szene referierte, schlug er allen Ernstes vor, dass Migrantinnen und Migranten, die sich auf den Schutz der Linken verlassen müssten, doch besser gehen sollten.

Damit wollte der Mann zwar bloß die Notwendigkeit von Bündnissen zwischen Linken mit Linksliberalen begründen, die dazu beitragen sollten, die Marginalisierung der radikalen Linken zu überwinden. Die Mär von den »Schwächsten der Schwachen«, die nur darauf warteten, dass Mitglieder dieser Gesellschaft ihre schützende Hand über sie halten, bleibt trotzdem irritierend - und macht eines exemplarisch deutlich: Die linke Mehrheitsmeinung gegenüber antirassistischen MigrantInnen schließt diese lediglich als untergeordnete Elemente ein. Aufsehen erregen sie nur dann, wenn sie als zu beschützende Opfer erscheinen, also wie immer als Objekte.

Ebenso stark geprägt war der Umgang linker Antifas mit Migrantinnen und Migranten in den neunziger Jahren vom Vorwurf, Identitätspolitik zu betreiben. Vor allem dann, wenn die Selbstwehr von Migrantinnen und Migranten einmal klappte und sie nicht bloß als Schutzbedürftige wahrgenommen wurden, erhoben Linke diesen Generalverdacht. Dadurch wurde der Kontext, in dem sich diese politische Ausrichtung entwickelte, stets ausgeblendet. So blieben die endlosen Diskussionen für und wider Identität in eben jenem Rassismus verfangen, der ihren Ausgangspunkt bildet.

Vorschläge wie die, »Hybridität« oder eine »Identitätsguerilla« gegen die vorherrschende Politik in Anschlag zu bringen, beschränkten sich auf eine Kritik an Repräsentationspolitik, während die sozialen Kämpfe gegen den Rassismus ignoriert wurden. Nicht zuletzt gaben sie die vom Rassismus erzeugte Aporie als Vorwurf an die antirassistischen Subjekte zurück. So ist es kein Wunder, dass man bis heute nicht durchblickt, wenn es um die tatsächlich vorhandene Ambivalenz zwischen zugeschriebenen und einverleibten Herkunftsmarkierungen, politischen Strategien und Selbstermächtigungspraxen von Migranten geht. Um nicht mehr gezwungen zu sein, Identitätspolitik entweder strategisch zu akzeptieren oder aber kategorisch zurückzuweisen, muss man sich wohl die Mühe machen, die Bedingungen ihres Entstehens in Beziehung zu setzen zu ihrem politischen Anliegen.

Selbstverständlich hat die häufig beschworene Krise des Antirassismus auch etwas zu tun mit den bisherigen Formen linker oder migrantischer Politik, die sich in den neunziger Jahren im Wesentlichen in drei unterschiedlichen Strängen herausgebildet hat.

So könnte man den migrantischen Lobbyismus als Identitätspolitik par excellence bezeichnen. Das im Ausländergesetz festgeschriebene Verbot der politischen Partizipation, das ganze Repertoire perfider Schikanen, die die Bundesrepublik den Migrantinnen und Migranten auferlegt, sowie das an einer Rückkehr orientierte Aufenthaltsrecht für Saison- oder Gastarbeiter liefern den Rahmen, in dem sich dieser migrantische Widerstand formierte.

Seit der ersten Generation sahen diese Menschen zwei Möglichkeiten, die Schwierigkeiten zu umgehen. Die erste bestand im Aufbau von Community-Strukturen. Arbeiter-, Eltern-, Sport- und Kulturvereine sind in diesem Zusammenhang entscheidende Momente der Selbstbehauptung.

Die andere Möglichkeit besteht in der Suche nach einem starken zivilgesellschaftlichen Partner (Parteien, Gewerkschaften etc.). Als Mixtur von ritualisierter Stellvertreterpolitik und selektiver »Integration« von Aktivistinnen alias Vorzeige-Kanaken endet diese Politik in einer Affirmation identitärer Zwangsverhältnisse.

Gleich zu Beginn der neunziger Jahre war immer öfter von der so genannten Selbstorganisation der Migrantinnen und Migranten die Rede. Mit dem Recht auf Selbstverteidigung sollte jede Form der Entmündigung seitens des linken deutschen Antirassismus und der Komplizenschaft kanakischer Lobbyisten aufgekündigt werden.

Ihre Präsenz auf Antira-Plenen sorgte für die dubiosesten Beschuldigungen seitens der deutschen Aktivistinnen. Die Vorhaltungen gegen selbstorganisierte Gruppen wie FeMigra, Antifasist Gençlik, Café Morgenland, KöXüs u.a. reichten von Separatismus bis zu umgekehrtem Rassismus, obwohl ihre Mitglieder lediglich versuchten, sich gegen die alltäglichen Formen des Rassismus zur Wehr zu setzen.

Die Gegenüberstellung von Täterkollektiv und Migranten bildete hier einen Ausgangspunkt. Die anti-deutsche Haltung führte zwar zu einer Zuspitzung, die kurzfristig politisierend wirkte. Sie konnte aber auf Dauer den wandelnden Funktionsweisen des Rassismus nichts Entscheidendes entgegensetzen. Ende der neunziger Jahre äußerte sich die Krise der Übriggebliebenen in einem selbstgerechten Solipsismus und der Stilisierung als Opfer. Die politisch begründete Gegen-Identifikation geriet ins rein Identitäre.

In dieser Zeit hörte man auch immer öfter von einer Kanak Chiceria, die einige Magazintitel schmückte, um den Charakter der Berliner Republik deutlich zu machen. Auf einmal sollte es Ausländer geben, die es trotz Rassismus und gegen ihn geschafft hatten, zu einigem Ansehen oder finanziellem Erfolg zu kommen. Hier ist man zwar immer noch authentisch, aber nicht mehr authentisch anders, sondern authentisch hybrid. Mit Migrantenkultur hat das wenig zu tun, viel dagegen mit dem Zerrbild einer angeblich hybriden Kultur. Die Chiceria gibt vor, etwas anderes als die Kanaken zu repräsentieren, wobei sie eigentlich gar nichts repräsentiert außer ihrem eigenen Vorankommen. In den meisten Fällen interessiert sie sich nicht einmal für Politik, da diese nur jene rassistische Erniedrigungen zu bieten hat, die sie ohnehin am eigenen Leibe erfahren. Von Rassismus reden wollen sie aber lieber nicht.

Dieser kurze Abriss des migrantischen Widerstands in den neunziger Jahren deutet schon auf die Grenzen einer Politik der Gegen-Identifikation hin. In Folge der Zuschreibungen als Objekt, als Opfer oder als in der Differenz-Boutique Almanya erfolgreiche »Andere« reagieren sie mit Umkehrung auf die Semantiken des Ethno-Erkennungsdiensts, mit positiver Besetzung der Begriffe - oder schlichter Negation.

Im Rückblick mag es zwar so aussehen, als habe es sich bei alledem »nur« um Identitätspolitik gehandelt. Aber in allen beschriebenen Widerstandsformen stecken bereits jene Elemente, die die identifikatorischen Fallen transformieren könnten. Allein durch theoretische Überlegungen ist diese Transformation jedoch nicht zu leisten, weshalb es auch keinen Ausweg als den Widerstand gegen die rassistische Herrschaft gibt. Und dieser wiederum existiert nur, weil Migrantinnen und Migranten ihn als Gruppe organisiert haben.

Man wird nicht einfach zu früheren Widerstandspraktiken zurückkehren können. Doch ohne die Analyse der gegenwärtigen Verhältnisse und der neu erworbenen sozialen Positionen, ohne eine Neubewertung und Dynamisierung der unterschiedlichen Erzählungen geht es nicht. Erst dann ließe sich die eigene Geschichte so transformieren, dass man die Hindernisse überwindet, die sowohl durch die »Fehler« wie durch das »Verschweigen« hervorgebracht wurden.