Proteste gegen die Globalisierung

Geist gegen Bewegung

Der Kapitalismus als gesellschaftliche Totalität ist den Globalisierungsgegnern ebenso unbegreiflich wie den Wertkritikern.

Die so genannten Globalisierungsgegner, die seit Seattle 1999 als neues Schreckgespenst durch diverse Länder geistern, werden zumeist aus falschen Gründen kritisiert. Stephan Grigat schaffte es in der letzten Jungle World, das kleine Einmaleins der aufrechten Wertkritiker auszupacken, um es sogleich gegen die Protestierenden zu wenden.

Die neue deutsche Wertkritik erweist sich auch hier als identitätsstiftender Code, anhand dessen sich diejenigen erkennen können, deren Revolten in den vergangenen Jahrzehnten scheiterten. Nun liefern sie theoretische Orientierungshilfe für eine Generation, die wegen der tristen neunziger Jahre in Deutschland gänzlich ohne Revolte-Erfahrung aufwachsen musste.

Mit der Auseinandersetzung zwischen Globalisierungsgegnern und Wertkritikern wird ein Spiel eröffnet, das von vornherein keinen überraschenden Ausgang verspricht. Beide Seiten spielen auf verschiedenen Brettern, wobei sie sich merkwürdigerweise ähnlicher sind, als es ihnen lieb sein kann. Ob die Ereignisse von Seattle, Prag, Davos und Genua von den Kritikern richtig eingeschätzt werden, darf ebenfalls angezweifelt werden. Die Kritiker mögen die Demonstrierenden nicht, weil sie ohnehin jeder Bewegung Misstrauen entgegenbringen. Bewegung ist den antideutschen Wertkritikern so suspekt wie es Adorno, Horkheimer und Habermas die revoltierenden Studenten von '68 waren.

Dabei wird übersehen, dass die Proteste gegen die Globalisierung tatsächlich nicht die entscheidenden Momente einer Bewegung aufweisen. Entwickelt sich tatsächlich eine soziale Dynamik durch das »Event-Hopping«? Das wäre doch eine lohnende Frage. Gelingt den Gipfelstürmern eine Kopplung ihrer Erfahrung an das, was fetischisiert »Alltag« genannt wird? Nimmt die aus Göteborg zurückgekehrte Schülerin den subversiven Schwung des Events auch in ihre Klasse mit?

Es sieht nicht danach aus, und weil die Event-Hopperei keine soziale Bewegung ist, verkommt sie zum reinen Spektakel. Wenn Stephan Grigat den Bewegten lediglich Antirassismus und Anti-Antisemitismus anrät, so kappt er damit das beste, was die Gipfelstürmer verkörpern: Eine neue Generation geht in die Offensive und löst damit die triste Neunziger-Jahre-Generation ab, deren Revolte-Ersatz die Loveparade oder kritisch-theoretischer Pessismusmus sind.

Das neue Bedürfnis nach Antikapitalismus, das nun wieder verstärkt bekundet wird, kommt dabei jedoch sehr einfach daher. Hierbei ist nicht nur die offene Flanke zum Antisemitismus ein Problem, der in der reformistischen Attack-Ideologie und ihrer Schelte des Finanzkapitals angelegt ist. Das weitergehende Problem ist, dass Antikapitalismus sich in fetischisierter Weise nur gegen einen Teilbereich der Gesellschaft richtet. Kapitalismus als Totalität ist den Gipfelstürmern genauso unbegreiflich wie Stephan Grigat, der ebenfalls die einzelnen »Teilbereiche« gegeneinander ausspielt.

Den Aktivisten fehlt der Zugang zum Lebensnerv der Gesellschaft, den sie ebenso verkennen und ignorieren wie ihre wertkritischen Kritiker. Von ihnen können sie auch nicht lernen, was eine Kritik des Bestehenden bedeuten könnte, weil die Wertkritiker den von jenen geschmähten Multi durch den Wert, der sich in Geld und Markt ausdrücke, ersetzen.

Der Wert wird jedoch durch abstrakte Arbeit und den spezifischen Tausch der kapitalistischen Produktionsweise konstituiert. Der »ungleiche Tausch« der Dependenztheorie erfasst die Wirklichkeit genausowenig wie Grigats Feststellung, dass sich die Ausbeutung in den Formen von Gerechtigkeit und Gleichheit vollzieht. Kapitalismus heißt aber auch soziale Gewalt und Produktivierung der Arbeitskraft.

Dieser endlose Prozess treibt in einer beispiellosen ursprünglichen Akkumulation Millionen von chinesischen Bauern in die Fabrikzonen an der Küste. Und er versucht gleichzeitig in den alten Metropolen mit der Ideologie des »Arbeitskraftunternehmers«, die Arbeitenden zu Agenten ihrer Verwertung zu machen. Markt und Tausch als überhistorische Begriffe dagegen erklären alleine nichts.

Solange die Wertkritiker immer nur die ersten 100 Seiten des Kapitals als erschöpfende Kapitalismuskritik verkaufen, muss man sich nicht wundern, dass die Aktivisten zu plattem Antiimperialismus oder der katholischen Soziallehre greifen. Die Produktion genauer anzuschauen, weigern sich die Protestler genauso wie ihre Kritiker.

Wo jedoch versprochen wird, dass dies ansatzweise geschieht, wie in der Antiglobalisierungsbibel »No Logo« von Naomi Klein, wird die Flucht der Kapitalisten vor der »unternehmerischen Verantwortung für die Arbeitskräfte im Norden« angeprangert, wird die Phrase von der Selbstbestimmung der Arbeit ausgepackt, für die ausgerechnet eine »internationale Gewerkschaftsbewegung« eintreten soll. Diesem Ausdruck der Antiglobalisierung fehlt nicht nur ein Verständnis davon, was globale Produktion heißt, sondern auch der Wille, dass diese eben nicht mehr funktionieren soll.

Andernfalls würde man nicht auf die Gewerkschaften setzen, deren Rolle es nun einmal ist, die Arbeitskraft zu verwalten. Indem die eigene Reproduktion, der Hass auf die Verhältnisse hier, das Leiden an Schule und Job von den Event-Hoppern nicht breiter thematisiert wird, führen die Protesierenden Stellvertreterkämpfe für andere und gegen punktuelle Ungerechtigkeiten, wo es - und da ist Stephan Grigat zuzustimmen - um die normale Geschäftsordnung der herrschenden Verhältnisse gehen müsste.

Ein zweiter großer Strang der simplen Kapitalismuskritik ist die Begeisterung für das Kleine, Überschaubare, für Subsistenz und Kuhstallwärme. Maria Mies predigt auf Veranstaltungen Verzicht und den Anbau von Zuckerrüben, während im Publikum die Handies trällern. Die Begeisterung für die Zapatistas führt zu einer den Produktivkräften feindlichen Utopie, während die Protestler selbst die neuesten technischen Entwicklungen selbstverständlich benutzen.

Technikfetischismus in der Gegenwart: eine gelungene virtuelle Vernetzung, eine neue Indymedia-Installation wird als großer Schritt des Widerstands gefeiert. Technikfeindlichkeit in der Utopie: eine schlechte Auflösung der weltweiten Ungleichzeitigkeit der kapitalistischen Entwicklung. Warum sollen ausgerechnet die kläglichen Behausungen und die harte Feldarbeit der Zapatistas eine Utopie sein und das metropolitane Virtuelle, das nur Ausdruck der realen Beziehungslosigkeit und der verhinderten spontanen Kommunikation von Kämpfen ist, die adäquate Form der aktuellen Subversion?

Noami Klein steht ebenso wie die neuen globalen Kapitalismuskritiker für eine antikapitalistische Sehnsucht, die an Marken und Markt leidet. Bleibt diese Kapitalismuskritik aber auf die Zirkulationssphäre fixiert, droht ein verkürzter Antikapitalismus. Dieser will entweder zu Ungunsten der Spekulation Arbeitsplätze schaffen oder gleich den verschwörerischen Strippenzieher dingfest machen.

In der vielstimmigen Bewegung gegen das globale Kapital gibt es mehr Unstimmigkeiten und Auseinandersetzungen, als es die schillernden Bilder der Riots und Demonstrationen oft glauben machen. Die Dialogbereitschaft der NGO auf der einen und die Militanz vieler neuer Antikapitalisten auf der anderen Seite stehen sich scheinbar unversöhnt gegenüber. Interessant sind jedoch die Übergänge. Gerade die wegen ihrer Militanz viel bestaunten Tute Bianche aus Italien stehen für einen Dialog mit der Macht. Luca Casarini, ein Sprecher der Tute Bianche, fungiert als Berater der Sozialministerin Livia Turco, die für einige Gesetze gegen Flüchtlinge verantwortlich ist. Casarini weiß diese Zusammenarbeit zu begründen: »Der Staat ist nicht mehr der Feind, den es zu stürzen gilt, sondern der Gesprächspartner, mit dem wir diskutieren müssen. Und die Wohlfahrt ist der einzige Schutz gegen den entfesselten Markt.«

Diese neue Unbefangenheit dem Staat gegenüber wird auch von Noam Chomsky vertreten, der Ikone des aktuellen Anarchismus, der seine Grundlage, die Staatskritik, wohl vergessen hat. Aus diesen Umklammerungen sollten sich diejenigen lösen, die einer Globalisierung von unten etwas abgewinnen können.

Sie können sich dabei auf den alten Dissidenten des Liberalismus, Karl Marx, berufen: »Aber im allgemeinen ist heutzutage das Schutzzollsystem konservativ, während das Freihandelssystem zerstörend wirkt. Es zersetzt die bisherigen Nationalitäten und treibt den Gegensatz zwischen Proletariat und Bourgeosie auf die Spitze. Mit einem Wort, das System der Handelsfreiheit beschleunigt die soziale Revolution. Und nur in diesem revolutionären Sinne, meine Herren, stimme ich für den Freihandel.«

Könnte diese Art der Kritik nicht in die Bewegung dringen, wobei die Kritik sich dynamisieren und auf die Wirklichkeit beziehen müsste? Die modisch gewordene Trennung von Kritik bzw. Theorie und Bewegung, wie sie im Streit zwischen Wertkritikern und Bewegungslinken zelebriert wird, geht zurück ins 19. Jahrhundert zu den Kritischen Kritikern, denen jede Bewegung ein Greuel war.

Wer den Geist gegen die Massenbewegung stellen will, wie Bruno Bauer im Jahr 1844 und die neue deutsche Wertkritik heutzutage, vergisst, was Marx bereits in der Deutschen Ideologie dagegen eingewendet hat: dass nicht die Kritik und die Kritiker die Geschichte machen, sondern dass es um die wirkliche, praktische Auflösung der Verhältnisse geht.