Johannes Ullmaiers Geschichte der deutschsprachigen Popliteratur

Wer spinnt? Wir oder die?

Testcard-Mitherausgeber Johannes Ullmaier schlägt sich durch die Geschichte der deutschsprachigen Popliteratur und kommt darin um.

Vielleicht das Einfachste vorweg: Johannes Ullmaier, Mainzer Germanist und Mitherausgeber des popkritischen Kompendiums Testcard, ist mit »Von Acid nach Adlon und zurück« die umfassendste, materialreichste Darstellung der deutschsprachigen Popliteratur gelungen. Sie ist in vier Kapitel aufgeteilt, vom Autor »Trips« genannt, die jeweils eine Epoche der hiesigen Popliteratur abhandeln.

Er fängt mit den späten neunziger Jahren an, mit dem Mainstream der Popliteratur, den Feierabendherrenreitern von »Tristesse Royale« und ihren Widersachern Maxim Biller und Feridun Zaimoglu. Dann kommt der zweite Trip, der größte Cut im Buch, es geht zurück in die (späten) sechziger Jahre. Die Protagonisten sind der März-Verleger Jörg Schröder, die Literaten Rolf-Dieter Brinkmann, Hubert Fichte, Jürgen Ploog, Hadayatullah Hübsch, Bernward Vesper, Jörg Fauser, der Multimedia-Künstler Ferdinand Kriwet.

Der nächste Trip beschäftigt sich mit der literarischen Fraktion des Punk, den genialen Dilettanten von Blixa Bargeld über Wolfgang Müller bis Frieder Butzmann und Thomas Kapielski. Max Goldt und Wiglaf Droste fehlen ebenso wenig wie der Anti-Authentizitist Thomas Meinecke (hört sich geschraubt an, aber so muss man ihn wohl bezeichnen). Exit Achtziger, enter Neunziger.

Ullmaier kommt im vierten Trip schließlich dort an, wo er angefangen hat, nur dass er jetzt die Marginalisierten oder besser: die kaum kategorisierbaren Protagonisten der Popliteratur, die Prenzlauer-Berg-Szene, die Slam-Poetry- und Social-Beat-Aktivisten, zu Wort kommen lässt, aber auch, Tusch!, Helge Schneider. Das Ganze wird abgeschlossen durch eine 40seitige kommentierte Auswahlbibliografie und eine CD mit O-Tönen.

Das Buch ist zweispaltig gesetzt. Auf der Innenseite läuft der Haupttext, die linke bzw. rechte Hälfte ist vollgestopft mit Marginalien: ergänzenden, widersprechenden und bewusst in die Irre führenden Zitaten, außerdem Abbildungen von Fotos, Flyern, Plakaten, Buchcovern. Es ist verspielt gestaltet. Übertrieben verspielt, so als würde die Mehrdeutigkeit und Hypercodierung des Pop zugleich auf Ullmaiers Buch selber angewendet.

Je mehr man sich auf das Material, das Ullmaier ausbreitet, einlässt, desto schwindeliger wird einem. Das fängt schon beim Titel an. »Von Acid nach Adlon und zurück« zitiert zwei Meilensteine der hiesigen Popliteratur. »Acid« hieß die 1969 von Brinkmann und Ralf-Rainer Rygulla zusammengestellte und kommentierte Anthologie amerikanischer Popliteratur, das vielleicht wichtigste Buch des März-Verlages.»Adlon« spielt auf das Berliner Hotel an, wo sich Stuckrad-Barre und Co. zum popliterarischen Austausch trafen, exakt 30 Jahre später. »Acid«, das heißt LSD schlucken, ausfreaken, das Sprechen entgrenzen, die Hochkultur stürzen. Die Frage ist jetzt: Was haben Acid und Adlon miteinander zu tun, dass man sie so umstandslos in einen Titel packt? (Zumal das Buch ja genau umgekehrt verfährt. Es beginnt im »Adlon«, schreitet dann zurück und endet schließlich im Hinterhof der Neuen Mitte.)

Nichts. Programmatisch und stilistisch haben die einen mit den anderen nicht viel mehr gemeinsam, als dass sie alle irgendwie schreiben und veröffentlichen. Man kann sich vielleicht einen produktiven Dialog zwischen Jörg Schröder und Wolfgang Müller vorstellen, aber keinen zwischen Schröder und Christian Kracht. Hinzu kommt, dass »Acid« eben keine deutschsprachige Literatur dokumentiert und erst recht keine deutschen Befindlichkeiten zum Ausdruck bringt, einfach weil es um amerikanische geht. Brinkmann, Rygulla und Schröder ging es in der postfaschistischen Gesellschaft erst um die Konstitution eines dissidenten Diskurses (wie idealistisch, unerfahren und neurotisch auch immer), die Tristesse-Royale-Jungs spielen bereits die souveränen Diskursverwalter.

Andererseits: Natürlich kann man »Adlon« auf »Acid« beziehen, analog zur politischen Geschichte der 68er (von der Putzgruppe zur Kriegstreiberei). Der Weg von »Acid« nach »Adlon« wäre eine weitere Illustration für die »Dialektik des anti-autoritären Bewusstseins« (Hans-Jürgen Krahl).

Was aber wohin führt, wird von Ullmaier gar nicht erst diskutiert. Wenn er sich durch das Gezänk und Gemäkel der letzten Jahre wühlt, Biller vs. Goetz, Zaimoglu vs. Stuckrad-Barre etc., dann bekommt man schnell den Eindruck einer Diskurshölle, in der es vor allem darum so heiß hergeht, weil keiner einen Begriff davon hat, was er eigentlich macht (und was Pop ist), das aber kaschiert, indem er den anderen umso aggressiver vorhält, sie hätten keinen Begriff von dem, was sie tun usw.

Höhepunkt dieser Gemengelage war eine im März letzten Jahres von Biller einberufene Popliteraturtagung in Tutzing, ein Ereignis, das - außer von Ullmaier - so schnell vergessen war wie die Ergebnisse der Shell-Studie »Jugendkultur '99«. Ullmaier beschränkt sich leider nicht auf das Dokumentieren und Collagieren der Diskussion in Tutzing, sondern leitet von Zitat zu Zitat über und referiert dabei ein ums andere mal das eben Gesagte. An diesen Stelle merkt man, dass die Kapitel auf Radioessays beruhen.

Wenn man wie ein Aufsatz in Jungle World, 18/01 davon ausgeht, dass das entscheidende Merkmal der neueren Popliteratur das Listen-Wesen ist, dann ist die dem zu Grunde liegende Geisteshaltung ein radikaler Positivismus. Listen präsentieren sich als Aufzählung und Anhäufung von heterogenem Material, das allein durch eine (willkürliche, da geschmackliche) Hierarchisierung vor der allzu offensichtlichen Beliebigkeit bewahrt wird. Zu einem Begriff, den man mit den Mitteln der immanenten Kritik aushebeln könnte, verdichtet sich dieses Material nicht.

Da Ullmaier sich nicht auf die Ausstellung der allgemeinen Vagheiten beschränkt, sondern kommentierend eingreift, verfängt er sich in den Fallstricken des Positivismus. Er setzt keine hartkantige Begriffsbildung dagegen (was einem als Leser immer arrogant und mutwillig verkürzend vorkommt, aber in einer Auseinandersetzung unabdingbar ist: Man hat etwas, an dem man sich abarbeiten kann), sondern zählt auf.

Die Frage »Was ist Popliteratur?« wird als »fruchtlos« verworfen, die andere, produktivere »Wie ist Popliteratur möglich?« gar nicht erst gestellt. Der Rest ist eine Liste (allerdings nicht durchnummeriert), was Popliteratur ausmacht oder auch nicht, jedenfalls: ausmachen könnte - Popularität, Inszenierungs- und Promotionsformen, Design, Szenenähe, kollektivistische Tendenzen.

Viel weiter hilft einem das nicht, weil weder das Geschwafel der späten Neunziger noch überhaupt die Vielköpfigkeit der Popliteratur seit 1965 auf irgendeinen Punkt gebracht werden kann. Aber Ullmaier hätte es versuchen sollen. Zu Beginn des dritten Trips schreibt er: »Je älter die siebziger Jahre wurden, desto älter sahen die 68er aus. Der Urknall war zerstoben, die Partikel zusehends mutiert zu immer weltfremderem Radikalismus, rattenfängerischer Esoterik, Landkommunen-Eskapismus, Selbsterkundungsspielchen oder Nostalgie. Der 'Marsch durch die Institutionen' führte öfter nur in sie hinein als durch sie durch - und Pop versank in Saturiertheit, Retro und Bombast.« Mag ja stimmen, aber, große Güte!, liest sich das bombastisch.

In jenen siebziger Jahren notierte Uwe Nettelbeck in seinem »Mainz wie es singt und lacht«-Buch (einem Werk, das in der Auswahlbiografie der Popliteratur zugeschlagen wird) unter dem Eintrag »Gummizelle«: »Ein Hauptproblem beim Schreiben ist wohl, dass die sonst nicht so wichtige Frage, wer hier eigentlich spinnt, wir oder die anderen, plötzlich in den Vordergrund tritt und die selbstverständliche Entschlossenheit beeinträchtigt, sich keine überflüssigen Gedanken zu machen.«

Das Problem stellen sich im Acid/Adlon-Buch nämlich die wenigsten.

Johannes Ullmaier: Von Acid nach Adlon und zurück. Eine Reise durch die deutschsprachige Popliteratur. Ventil, Mainz, 216 S., DM 39,90