Die Geschichte des Skispringens

Dänen flogen früher

Die ersten offiziellen Wettkämpfe im Skispringen wurden von Skandalen begleitet. Mittlerweile gehört die Sportart zu den seriösesten überhaupt.

Zu den wichtigsten Beschäftigungen deutscher Sportfans im Januar dürfte das Anschauen der Vierschanzentournee gehören. Während aufgeregte RTL-Moderatoren und Anhänger des Skispringens gern davon ausgehen, dass es sich bei der Sportart um eine wenn schon nicht urdeutsche, so doch mindestens deutsch-österreichische Tradition handelt, und gern verkünden, dass Deutsch die offizielle Amtssprache beim Skispringen ist, sieht die Wahrheit ganz anders aus. Die Vierschanzentournee gilt im Ausland definitiv nicht als das Highlight der Saison, und der erste Skispringer verstand sicher kein Bayrisch.

Zum ersten Mal schriftlich erwähnt wurde das Skispringen im Jahr 1796 im damals noch zu Dänemark gehörenden Norwegen. Die Soldaten des Landes waren in der Provinz Telemark mit Skiern ausgerüstet worden, wahrscheinlich liefen sie um Hindernisse nicht herum, sondern sprangen einfach drüber.

Dem jungen Leutnant Olaf Rye gelang jedenfalls nur wenige Jahre später der erste dokumentierte Weitsprung. Der am 16. November 1791 in Boye/ Telemark geborene Olaf begann schon als Zwölfjährger seine Militärlaufbahn. Im Jahr 1808, als er zu seinem großen Sprung ansetzte, war er zum Zweiten Leutnant des Infantrieregiments Telemark befördert worden.

Besonders anstrengend scheint der Dienst nicht gewesen zu sein, Rye beschäftigte sich hauptsächlich mit Landschaftsmalereien und dem Skispringen. Eine Weite von 17 Alen, 10,63 Metern, habe er 1808 mit dem Hüpfer von einem aufgeschichteten Schneehügel geschafft, vermerkt er stolz in seinem Tagebuch.

1814 war es mit der Ruhe vorbei. Dänemark musste im »Kieler Frieden« Norwegen an Schweden abtreten, Rye und seine beiden Kameraden Schlepegrell und Helgesen wollten jedoch auf den schwedischen König keinen Eid ablegen und verließen Skandinavien. Der Skispringer wurde Preuße, unter Feldmarschall Blücher nahm er 1815 an der verlustreichen Schlacht gegen Napoleon bei Warerloo teil.

Nach dem Friedensschluss zog es Olaf Rye zurück in die dänischen Dienste, 26 Jahre verbrachte er im Regiment des Herzogs von Oldenburg, der eines der am besten ausgerüsteten Heere der Welt unterhielt, denn er war vertraglich verpflichtet, dem deutschen Bundesheer jederzeit 5 400 Soldaten zur Verfügung stellen zu können.

Dieser Dienst in Rendsburg muss Rye sehr gelangweilt haben, schließlich versuchte er seinen Abschied einzureichen, um in Russland eine neue Karriere zu beginnen. Als ihm das verweigert wurde, meldete er sich krank, er wurde jedoch erwischt und musste 30 Tage Arrest absitzen.

1848 brach der dänisch-holsteinische Krieg aus, in dessen Verlauf der für Dänemark kämpfende Rye ein Jahr später erschossen wurde. Dass es ihm zuvor gelang, seinen Rekord zu brechen, ist nirgendwo vermerkt, er muss also eine ganze Weile gehalten worden sein, denn erst viel später, 1860, erreichte ein unbekannter Sportler die dokumentierte sensationelle Weite von 30,5 Metern. Natürlich nicht von einer richtigen Schanze, gesprungen wurde immer noch über das, was gerade in der Nähe herumstand, verschneite Holzstapel, Scheunendächer oder Hügel.

Erst 1879 wurde in Norwegen die erste richtige Schanze errichtet, auf dem berühmten Holmenkollen gab es 1892 erste Wettkämpfe. Dabei galt die so genannte Telemark-Landung bereits als Standard, zum ersten Mal erwähnt wurde sie jedoch erst 1906 von dem Dichter Henry Høk. Allerdings, davon muss ausgegangen werden, sahen die Sportler während ihrer Sprünge wohl ziemlich dämlich aus, denn die »Opprake«-Technik erforderte einen geraden Oberkörper, angezogene Beine und wild rudernde Arme.

Der so genannte Vorlage-Stil wurde erst 1912 von Springern aus den USA entwickelt, wo der Erbauer der Anlage am Holmenkollen gerade auch eine Schanze errichtet hatte. Obwohl auch dieser Stil seltsam anmutete. Während der Oberkörper angewinkelt wurde, wurden die Arme wie beim Schlafwandeln so weit wie möglich nach vorne gestreckt.

Trotzdem wurde die Sportart rasch populär. An der ersten Winterolympiade 1924 in Chamonix - 1908 und 1920 waren bei den Sommerspielen Eiskunstlaufen und Eishockey im Programm gewesen - durften auch die Skispringer teilnehmen. Im Spezialsprunglauf, wie die Sportart damals auf Deutsch hieß, ermittelte die Jury den Durchschnittswert aus der erzielten Weite und den streng geheimen Stilnoten, die auf einer Skala von null bis 20 bewertet wurden.

Das Verfahren war derart kompliziert, dass es zu einem Fehler bei der Medaillenverteilung führte, der erst 50 Jahre später bemerkt wurde. 1974, bei einem Treffen der noch lebenden Olympiateilnehmer von Chamonix, machte der damalige Zweite im 50-Kilometer-Langlauf, Thoralf Strømstad, den Direktor des Holmenkollen-Museums auf die falsche Berechnung aufmerksam. Jakob Våge überprüfte die alten Listen und stellte fest, dass sich die Offiziellen tatsächlich geirrt und dem falschen Mann die Bronzemedaille überreicht hatten.

Der Norweger Thorleif Haug hatte in Wirklichkeit fast einen Zehntelpunkt weniger erreicht als der ursprünglich Viertplatzierte Amerikaner Anders Haugen. Haug war jedoch bereits im Jahr 1934 an einer Lungenentzündung gestorben, seine Tochter Anne-Marie Magnussen überreichte schließlich 1974 dem mittlerweile 86jährigen Haugen während einer kleinen Feierstunde am Holmenkollen die Bronzemedaille ihres Vaters.

Auch 1928 war es beim olympischen Springen in St. Moritz zu einem Skandal gekommen. Um den Zuschauern ein echtes Spektakel zu bieten und um größere Weiten zu erzielen, wollten die Funktionäre im zweiten Durchgang den Anlauf verlängern. Auf die Sicherheitsbedenken einiger Jurymitglieder gingen sie nicht ein. Bei böigem Wind sprang der Olympiasieger von 1924, Jakob Tullin Thams, zwar sensationelle 70 Meter weit, stürzte jedoch bei der Landung so schwer, dass er wegen der erlittenen Wirbelverletzungen seinen Sport nie wieder ausüben konnte.

Bei der folgenden Olympiade 1932 in Lake Placid und 1936 in Garmisch-Partenkirchen ging dann erstmals alles glatt. Die Begeisterung über die Männer, die sich von den Schanzen stürzten, wurde immer größer. Der Schwede Sven Ericsson, Zweiter in Garmisch, bekam von den hocherfreuten Gemeinderäten seines Heimatortes Selånger sogar einen neuen Namen geschenkt. Weil es dort bereits so viele Ericssons gab, durfte er sich zur besseren Unterscheidung Sven Selånger nennen.

Die Sprungwettbewerbe gewann der Norweger Birger Ruud, der erste Star dieser Disziplin. Ruud, der zeitweise in Österreich und in Deutschland lebte, verweigerte später aus Protest gegen die deutschen Besatzer, die sich gern mit seiner Popularität geschmückt hätten, alle Starts zu offiziellen Anlässen. Stattdessen veranstaltete er mit Freunden eigene Springen. »1943 wurde Ruud verhaftet und ins KZ Grini gesteckt, wo auch sein Bruder Sigmund inhaftert war«, schreibt Volker Kluge in seiner Chronik »Die Winterspiele«. Erst kurz vor dem Kriegsende kam Ruud wieder frei, an die großen sportlichen Erfolge konnte er trotz einer Silbermedaille bei der Olympiade 1948 nie wieder richtig anknüpfen.

Mittlerweile hatte sich zudem der Sprungstil geändert. 1936 war Sepp Bradl der erste Sprung über 100 Meter gelungen, der Österreicher hatte dabei den Hüftknick eingeführt. 14 Jahre später wurde das Skispringen von dem Schweizer Andreas Däscher erneut revolutioniert. Statt wie beim Kopfsprung vom Dreimeterbrett mit den Armen voran von der Schanze zu hüpfen, legte er sie plötzlich seitlich eng an die Oberschenkel. Tropfenstil wurde diese Haltung damals genannt.

Danach entwickelte sich das Skispringen zunächst nur wenig weiter. Bjørn Wirkola, Wladimir Beloussow, Hans-Georg Aschenbach, Toni Innauer, Jens Weißflog und Matti Nykänen hüpften alle brav im Tropfenstil von den Schanzen und machten die Sportart zu einer der verlässlichsten überhaupt.

Dann jedoch kam es wieder zu einer Revolution des Sprungstils. 1987 erfand Jan Bokloev den auch heute noch gebräuchlichen V-Stil - eigentlich aus Zufall: Beim Versuch, einen Sturz zu vermeiden, nahm der Schwede, was bis dahin streng verboten war, die Beine auseinander und segelte dadurch drei bis fünf Meter weiter als je zuvor. Der bis zu diesem Zeitpunkt mittelmässige Springer blieb danach hartnäckig beim V. Die Kampfrichter gaben ihm regelmäßig unterirdisch schlechte Haltungsnoten, die Bokloevs Weiten jedoch nicht immer egalisierten. In der Saison 1989/1990 konnte er den Weltcup gewinnen, rasch entdeckte auch die Konkurrenz die Vorteile des neuen Stils, Jan Bokloev beendete seine Karriere, arbeitet heute als Trainer der schwedischen Damen-Nationalmannschaft, und nun ist wieder Ruhe.

Rye hätte die Entwicklung seiner Sportart zum Großereignis sicher gefallen, auch wenn seine Landsleute keine Rolle dabei spielten. Immerhin, der Oberst ist in Dänemark bis heute nicht vergessen. Ein Denkmal in Kopenhagen erinnert an ihn, eine dänische Militärunterkunft im Kosovo ist nach ihm benannt. Sein Skisprung sei schließlich, da sind sich die Nachbarn in Schweden und Norwegen sicher, der weiteste, der einem Dänen je gelang.