Ruslan Ponomarjow, der jüngste Schachweltmeister aller Zeiten

Schneller denken

Ruslan Ponomarjow ist der jüngste Schachweltmeister aller Zeiten.

Vom neuen Schachweltmeister wissen die meisten Menschen nur, dass er aus der Ukraine stammt, eine halbe Million Dollar kassiert hat und ein Fall für das Guinness-Buch der Rekorde ist. Schließlich ist Ruslan Ponomarjow gerade erst 18 Jahre alt. Insidern ist er schon länger bekannt. 1995 hatte Ponomarjow als Junge bereits die U 12-WM gewonnen und seither, von der Danko AG gesponsert, sechs Stunden pro Tag Schach trainiert. Mit 14 war er der jüngste Großmeister und U 18-Weltmeister aller Zeiten.

Dabei war der heutige Titelträger recht spät zu seiner Sportart gekommen. Sein Vater hatte ihm erst im Alter von sieben Jahren die wichtigsten Schachregeln beigebracht, »als Kind waren Kasparow und Karpow meine Vorbilder, mittlerweile habe ich keine mehr«, sagt der Weltmeister heute.

Kritiker werfen ihm vor, von einer Regeländerung des Internationalen Schachverbandes Fide zu profitieren. Der Verband hatte für die diesjährigen Meisterschaften die Bedenkzeit während eines Matches von sieben auf vier Stunden herabgesetzt und dadurch das Spiel zu einer Art Blitzschach degradiert, wie manche unkten.

»Eine Politik zur Zerstörung von Schachtraditionen« sah beispielsweise der demonstrativ dem Wettkampf fernbleibende ehemalige Weltmeister Garri Kasparow im neuen Modus, der Weltranglistenzweite Wladimir Kramnik sagte: »Der Weltmeister sollte nach traditionellem System ermittelt werden, nicht in einem Glücksspiel.« Ponomarjow hatte die Regeländerungen begrüßt, da er die Förderung »sportlicher Aspekte im Schach« gutheiße.

Zieht man in Betracht, welch großen Aufruhr selbst kleinste Regeländerungen im Fußball hervorrufen und mit welchem Aufwand selbst die für Kickerangelegenheiten nicht zuständigen Feuilletonisten auf realitätsangepasstere Variationen reagieren, kam die Schachwelt mit ihren Kritikern vergleichsweise glimpflich davon.

Vor allem wenn man diese Disziplin an ihrem Alter misst. Schach wurde bereits vor dem Beginn der christlichen Zeitrechnung gespielt, im 6. Jahrhundert gelangte es von Indien durch arabische Händler nach Persien. Im Jahr 1050 wurde in Skandinavien die erste europäische Schachfigur geschnitzt, sie bestand aus Walrossknochen. 1238 schrieb der Spanier Alfonso el Sabio das erste Lehrbuch der Sportart. Nicht ganz 200 Jahre später wurde in Niedersachsen das erste Turnier durchgeführt.

Ruslan Ponomarjow wird das alles wohl gewusst haben, als er sich zur WM anmeldete. Auch dass sowohl Kasparow als auch Kramnik an der »KO-Weltmeisterschaft« nicht teilnehmen wollten, war ihm klar. Am Ende spielte er gegen seinen Landsmann Wassili Iwantschuk um den Titel.

Die fünfte Partie brachte die Wende. Ponomarjow, mit Weiß spielend, wählte die Spanische Eröffnung und hatte trotz einer neuen Springervariante ab dem 30. Zug Schwierigkeiten. Iwantschuk wurde offensiver, konnte jedoch den Stellungsvorteil, den er durch den Gewinn eines Bauern auf dem Damenflügel erreicht hatte, nicht ausnutzen. Nach 64 Zügen setzte Ponomarjow den schwarzen König mit zwei Zentrumsbauern matt und wurde Weltmeister.

Dieser Titel hat den meisten seiner Vorgänger kein Glück gebracht. Bobby Fischer etwa, der im Jahr 1972 in Reykjavik gegen Boris Spasski gewonnen hatte, verlor drei Jahre später kampflos gegen Anatoli Karpow, weil er zum Match nicht antrat.

Fischers Schicksal, dem die englische Popband Prefab Sprout einen eigenen Song (»Cue Fanfare«) widmete, gibt bis heute zu Spekulationen Anlass. Er hatte sich aus der Öffentlichkeit zurückgezogen, Insider spekulierten immer wieder, dass er sich vielleicht umgebracht habe. Vor einigen Monaten behauptete ein US-Journalist, er habe im Internet gegen ein Genie der Sportart und daher wohl gegen niemand Geringeren als Fischer gespielt, den letzten Beweis blieb der Reporter jedoch trotz vorgelegtem E-Mail-Wechsel schuldig.

Fischer war nicht der einzige Weltmeister, dem der Titel kein Glück brachte. Auch ein deutscher Weltbester, dessen Namen heute kaum jemand kennt, war nach seinem gößten Sieg nicht erfolgreich. Der Bundesliga-Schachspieler und Historiker Ulrich Sieg hat mittlerweile als Erster umfassend das Leben von Emanuel Lasker erforscht, der von 1894 bis 1921 Weltmeister war und seinen Titel zwischen 1907 und 1911 in fünf Wettkämpfen verteidigte, zuletzt gegen den Polen David Jasnowski.

Sieg war im Rahmen seiner Arbeit über die Haltung deutscher jüdischer Intellektueller im Ersten Weltkrieg auf das Schachgenie gestoßen. »Emanuel Lasker. Schach, Philosophie, Wissenschaft« heißt sein zusammen mit dem Politologen Michael Dreyer im letzten Jahr im Berliner Philo-Verlag herausgegebener Band über Lasker.

Der war nach dem Abitur in Landsberg zu seinem Bruder Berthold nach Berlin geschickt worden. Das Studium der Mathematik musste er jedoch nach drei Semestern aufgeben, dem Vater, der als Kantor nicht viel verdiente, war das Geld ausgegangen. Für Emanuel war das wahrscheinlich ein Glücksfall, denn so konnte er sich wieder mit dem geliebten Schachspiel beschäftigen. Und Weltmeister werden und bleiben.

Seine Schachkolumnen für die damalige Tagespresse nutzte der Titelträger immer wieder für höchst patriotischen Kommentare. »Deutsche Eroberungen in Nordfrankreich verglich er mit einem Springervorposten auf f5«, schreibt Sieg. Von seiner Frau, der Schriftstellerin Martha Bamberger, ermutigt, begann auch Lasker, Texte abseits seiner Sportart zu veröffentlichen, jedoch ohne durchschlagenden Erfolg. 1927 gründete er in Berlin eine Schule für Verstandesspiele, an der er sich unter anderem mit Go und Bridge beschäftigte und sogar ein eigenes Spiel namens Lasca erfand.

Nach der Machtübernahme der Nazis emigrierten Lasker und seine Frau zunächst in die Niederlande und von dort aus weiter nach England. Um sich dort den Lebensunterhalt zu verdienen, begann der ehemalige Weltmeister wieder mit dem Schachspielen. 1934 trat er beim Turnier in Zürich an und wurde auf Anhieb Fünfter. Kurze Zeit später wurde das Ehepaar nach Moskau eingeladen, wo man ihnen eine eigene Wohnung zur Verfügung stellte.

Der fast Siebzigjährige nahm auch dort an einigen Turnieren teil, wo er gegen die damalige Weltspitze immer noch gut mithalten konnte. Trotzdem verließen die Laskers Moskau wieder, ihr Förderer und Freund Nikolai Kylenko war den Terrormaßnahmen Stalins zum Opfer gefallen und hingerichtet worden. Das nächste Ziel war New York, wo Lasker wieder gezwungen war, Schach zu spielen, um Geld zu verdienen. Dort veröffentlichte er einige merkwürdige Pamphlete. So schlug er in einer Publikation aus den vierziger Jahren vor, alle Juden künftig in Alaska anzusiedeln.

Ruslan Ponomarjow wird diese Geschichte wenig interessieren. Die Kommentare seiner Gegner geben jedoch nur zu wenig Hoffnung Anlass. Der neue Weltmeister müsse, so Kasparow, nun »lernen, zu verlieren«.