Debatte über den Imperialismus

Die Revolution neu denken

Empire statt Imperialismus: Der sich verändernde Kapitalismus ist mit überholten Begriffen weder zu analysieren noch zu bekämpfen.

Der Imperialismus galt in der marxistischen Theorie als Steigerungsform des Kapitalismus und als Ausdehnung von Herrschaft. Karl Marx und Friedrich Engels haben den Imperialismus nur randständig zitiert. Im »Kapital« analysierte Marx vor allem die Zentralisierung der Produktion und kündete in weiter Ferne den Zeitpunkt ihrer höchsten Konzentration an. Die linken Sozialdemokraten Rosa Luxemburg und Parvus (Alexander Helphand) beschäftigten sich in ihren Schriften mit den historischen Entstehungsbedingungen des Kapitals, seiner kolonialen Expansion und der Durchsetzung des Warentauschs.

Die Zerstörung der Subsistenzproduktion und der vorkapitalistischen Ökonomie spielte dabei eine zentrale Rolle. Die Befriedung der Arbeiterbewegung in den so genannten imperialistischen Ländern wurde mit der Ausbeutung der Kolonien erkauft, lautete eine der Thesen. Der Imperialismus stelle den vollendeten Kapitalismus dar, der sich weltweit durchgesetzt habe.

Lenins Text »Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus« von 1916 setzte einen Schlusspunkt unter diese Debatte. Bis heute arbeitet die Linke mit dem Leninschen Begriffsinstrumentarium. Seine Konzeption des Imperialismus feuerte jahrzehntelang die nationalen Befreiungs- und ihre Solidaritätsbewegungen an. Auch wenn sich heute kaum noch jemand positiv auf Lenin beziehen möchte, geschieht dies unweigerlich, weil eine Analyse der internationalen Arbeitsteilung und der sich verändernden Rolle moderner Staatlichkeit bislang fehlte.

Toni Negri und Michael Hardt haben nun eine solche Analyse vorgelegt. In ihrem Buch »Empire« untersuchen sie die Veränderungen des Kapitalismus in den letzten 20 Jahren und versuchen, eine neue Revolutionstheorie zu begründen. Die neue Weltordnung ist ihrer Meinung nach auch das Ergebnis der gescheiterten Weltrevolution nach leninistischem Vorbild. Die Überwindung des Imperialismus stellt für die Autoren die Voraussetzung für die volle Entfaltung des Weltmarktes dar.

Gleichzeitig verabschieden sich Negri und Hardt von allen bisherigen Strategien und Taktiken der alten revolutionären Schule, ihre Theorie beansprucht, mehr zu sein als eine bloße Rekonstruktion. Vielmehr versuchen sie, eine Synthese aus Marxismus, Poststrukturalismus und feministischer Theorie herzustellen. Die Dialektik der Aufklärung wird mit der postmodernen Kritik der Aufklärung versöhnt, um der Ausdehnung des Wertgesetzes auf allen sozialen Feldern den Kampf anzusagen. Dabei wird genauso wenig auf Pathos wie auf die Analyse der aktuellen Produktionsverhältnisse verzichtet.

Michael Hardt und Toni Negri haben einen theoretischen Entwurf formuliert, dem es um die kapitalistische Totalität geht. Geschichte soll wieder gemacht und nicht erlitten werden, lautet ihre Aufforderung. Ohne einen Hauch von Nostalgie schildern sie die Konsequenzen des Übergangs von der Moderne in den postmodernen Kapitalismus.

Diesen Übergang betrachten sie nicht nur negativ, sondern interpretieren ihn auch als eine Möglichkeit der Befreiung. Währernd der klassische Imperialismus noch die Ausbreitung des Nationalstaates über seine Grenzen hinaus bedeutet habe, gebe es heute weder Nationalstaaten noch Imperialismus. Dieses neue supranationale, weltweite und totale Dispositiv heißt Empire. »Das Empire ist nicht lediglich ein schwaches Echo der modernen Imperialismen, sondern eine grundlegend neue Herrschaftsform«, schreiben Hardt und Negri.

Dabei meint der Begriff des Empire nicht etwa nur die USA, sondern den grenzenlosen Kapitalismus, der sich Anfang der neunziger Jahre, am Ende des Realsozialismus und zu Beginn des zweiten Golfkrieges, herausgebildet hat. Diese neue Herrschaftsform kenne kein Zentrum und keine Peripherie mehr. Das Außen existiere nicht mehr, die Herrschaft und die Ausbeutung gleichwohl.

Streng hegelianisch erweitern Hardt und Negri dabei den Begriff des Moralischen ins Politische und bemühen sich um eine vernünftige Analyse der Situation als Voraussetzung politischer Praxis. Die Möglichkeiten, den Kapitalismus zu überwinden, sind ihrer Ansicht nach so gut wie nie zuvor, da die inneren Widersprüche dieses Herrschaftssystems immer unerträglicher würden. Doch »Empire« liefert keine Theorie, die sich gleichzeitig auch als Handlungsanweisung verstehen ließe; auch in diesem Sinne handelt es sich um ein marxistisches Werk.

Hardt und Negri grenzen sich explizit von Lenins Imperialismustheorie ab, da sie keine Zusammenbruchstheorie verfassen wollen. Sie schildern nur die Beteiligten, die den Zusammenbruch herbeiführen könnten, die so genannte »Vielheit« (Multitude, in der deutschen Ausgabe als »Menge« übersetzt). Doch wie diese Vielheit zur Praxis kommt, weigern sie sich zum Glück zu beschreiben. Interessant ist ihre Wiedereinführung der Subjekte als »Feld von Singularitäten«, die sich als Antithese zum homogenen, mit sich identischen Volk liest. Die instrumentelle Vernunft, die die Menschen dazu bringt »für ihre Knechtschaft (zu) kämpfen, als ginge es um ihr Heil«, wird in ihrer Analyse mitreflektiert.

Auch wenn Hardt und Negri gegen die Eindimensionalität anschreiben, fallen sie ihr in manchem anheim. Sie schildern die Moderne und die Postmoderne als sukzessive Sequenzen und nicht als zwei kulturell durchaus komplementäre und manchmal auch sich widersprechende Akkumulationsformen des Kapitals, in denen sich die Zentralisierung und die Fragmentierung von Macht nicht unbedingt ausschließen.

Ihre Interpretation legt nahe, dass sich der Kapitalismus, wie schon bei Lenin, in seinem letzten Stadium befinden könne. Die Vielheit solle aus ihrer sozialen Exklusion eine Stärke machen und politisch zu sich selbst kommen. Auch wenn die Autoren nicht in die Falle tappen, die Vielheit in ihrer revolutionären Subjektkonstitution zu definieren, endet »Empire« mit einem kategorischen Imperativ: der Aufforderung zur revolutionären Tat. Gleichwohl wird darauf verwiesen, dass die Vielheit in ihrer Mobilität zumeist eine prekäre Existenz führt und dass diese Mobilität noch weit davon entfernt ist, zu einer politischen Haltung zu werden.

Negris und Hardts theoretische Synthese kann als Aufforderung zum Denken und zur Diskussion gelesen werden. Dass ein sich verändernder Kapitalismus mit alten Begriffen weder zu analysieren noch zu bekämpfen ist, gilt als Ausgangspunkt von »Empire«. Der Rest ist eine Beschreibung von Prozessen, über deren Entwicklungsstadium sich streiten lässt und die unterschiedliche Schlussfolgerungen ermöglicht. Die Realisierung des Weltmarktes ist noch im Gange, die globale Vereinheitlichung der Machtverhältnisse wird von Negri und Hardt konstatiert, aber nicht belegt.

Dass eine Verschiebung von supranationalen Herrschaftsformen stattfindet, lässt sich an den aktuellen Kriegen, die von den Autoren nur noch als »Polizeiaktionen« interpretiert werden, nachvollziehen. Die ethische Begründung der militärischen Apparate und die gewünschte Effektivität der militärischen Einsätze lesen sich wie eine Prognose auf die Ereignisse nach dem 11. September: »Heute wird der Feind, wie auch der Krieg selbst, zugleich banalisiert und verabsolutiert, er wird reduziert auf ein Objekt der polizeilichen Routine und dargestellt als der große Feind, die absolute Bedrohung der moralischen Ordnung.«

Die Rechtfertigung der internationalen Kriegsführung definiert sich über den Ausnahmezustand und die kapitalistische Krise. Aus der kapitalistischen Versklavung des »Anderen« im Kolonialismus ist eine Deterritorialisierung geworden, d.h. »ein Herrschaftsapparat, der Schritt für Schritt den globalen Raum in seiner Gesamtheit aufnimmt«.

Die Trennung der Produktion und der Reproduktion ist durch die neuen Arbeitsformen, die von den Autoren als »immaterielle Arbeit« charakterisiert werden, aufgehoben. Der ganze Körper ist zur Maschine geworden, wie Marx es in den Grundrissen bereits skizziert hat. Die nicht mehr greifbaren Produkte produzieren dennoch Mehrwert, behaupten Negri und Hardt, ohne auch dieses nachweisen zu können.

»Empire« ist eine große Erzählung und rehabilitiert gemeinsam mit der poststrukturalistischen Theorie das längst tot gesagte Subjekt und behauptet damit die Möglichkeit einer grundlegenden gesellschaftlichen Veränderung. Negri und Hardt fordern dazu auf, die aktuellen Verhältnisse erst einmal zur Kenntnis zu nehmen und sich des veralteten Begriffsinstrumentariums zu entledigen, weil ihr »Ansatz methodisch mit jeglicher Geschichtsphilosophie (bricht), insofern er deterministische Vorstellungen von historischer Entwicklung ebenso verwirft wie die 'rationale' Rechtfertigung von Resultaten«.

»Empire« bietet daher eine antinationale Plattform, die sich gegen jede Form der ideologischen Abkürzung richtet. Ein Angebot, das sich erfrischend von binärem Denken verabschiedet und dessen Dynamik deshalb nicht zu unterschätzen ist.