Terry Eagletons »Was ist Kultur?«

Fisimatenten der Postmoderne

Alles ist Kultur, und das ist dem Literaturwissenschaftler Terry Eagleton zu viel.

Kultur hat Konjunktur, und ein Ende ist nicht abzusehen. Ess-, Wohn-, Streitkultur, Körper-, Freizeit-, Unternehmenskultur, aber auch so etwas wie Leitkultur, Popkultur oder, weniger geläufig, Sepulkralkultur. Was auch immer, Kultur ist in jedem Fall das unverzichtbare Anhängsel, mit dem sehr verschiedene Waren, Bilder, Stimmungen und Einstellungen um Zeit und Geld konkurrieren, an die Öffentlichkeit treten, um Ansprüche auf eine angemessene Wertschätzung anzumelden.

Doch das ist noch lange nicht alles. Wofür diese Kulturen im Überfluss mit ihren mehr oder weniger feinen Unterschieden im Wettbewerb um das so genannte symbolische Kapital kaum einmal Verwendung haben, das sind die knallharten Fragen auf Leben und Tod plus Ehre, Erde, Blut. Ihrer Verbuchung als kulturelle Angelegenheit tut das jedoch keinen Abbruch; sonst würde wohl weniger auf dem Gemeinplatz herumgetrampelt, dass unter Menschen aus den Gegenden, wo mit derartigen Fragen dauernd Ernst gemacht wird, eben solche Kulturen gedeihen, die spektakulär anders als unsere sind.

Zu dieser wiederum gehört nun - immer noch und in einer Art Dauerkrise, was sie umso schutzbedürftiger macht - auch eine Hochkultur, die man auch Kultur schreiben kann, weil sie sich nicht einfach neben den anderen einreihen lässt. Oder wie sieht das aus mit Homer, Dante, Shakespeare, Goethe (und Marx und Freud und der Moderne), dem ganzen abendländischen Erbe also?

Hilfe, ein bisschen viel auf einmal! Zusammen mit den beiden anderen Modellen - der mit Konsum und der mit Identität beschäftigten Kulturen - wären das immerhin drei riesige Bereiche, wobei jedesmal etwas anderes unter Kultur verstanden wird. Das sollte eigentlich Grund genug sein, diesem nimmersatten Begriffsmonster aus dem Weg zu gehen. Wenn es einen nur ließe. Doch so kulturlos, dass man von ihm verschont würde, ist so gut wie niemand mehr. Nichts, was es sich nicht einverleiben würde.

Auf die Frage »Was ist Kultur?«, die das Buch des Literaturwissenschaftlers Terry Eagleton als Titel führt, gäbe es also eine denkbare knappe Antwort: alles. Und das ist, um die Position des Autors, von dem auch die gerade referierte Dreiteilung stammt, auf die Schnelle zusammenzufassen, überhaupt nicht gut so. Eagleton, der es in früheren Büchern schon mit »Ästhetik« und »Ideologie« aufgenommen hatte, bleibt einer Art von marxistischem Common Sense verpflichtet, nach dem Motto: »Jetzt aber mal Schluss mit den postmodernen Fisimatenten!« Im Zeichen der Postmoderne, so sein Lieblingsvorwurf, habe das linke Denken abgewirtschaftet, sich der Entpolitisierung verschrieben und dem Schein zugearbeitet, Kultur sei heute das Wichtigste - »die neue Dominante in der Gesellschaft«.

Was gegen diesen Schein aufgeboten wird, ist eine denkbare einfache Versicherung: »Die hauptsächlichen Probleme sind keineswegs besonders 'kulturell'. Es sind nicht in erster Linie Fragen der Werte, der Symbolik, der Sprache, der Tradition oder der Zugehörigkeit und erst recht nicht der Künste.« Steht so ein Satz eigentlich da, damit man »Genau!« neben ihn schreibt? Eagleton hätte es sich und den Lesern hier ruhig etwas schwerer machen können, schließlich ist Theorie sein Geschäft.

Doch obwohl auch er sich auf Frederic Jamesons viel zitierten, aber trotzdem immer noch lesenswerten Aufsatz zur »kulturellen Logik des Spätkapitalimus« beruft, lässt ihn dessen entscheidender Gedanke ziemlich unbeeindruckt. Auf den Punkt gebracht: Wo die Hypertrophie des Kulturellen zur kapitalistischen Normalität gehört, überkommt sie irgendwann auch deren real existierende Härten und Zumutungen.

Ausbeutung und Elend machen sicher weiter, sind dabei aber eben selber schon krass kulturalisiert; und weil das so ist, kann man sie nur noch schlecht gegen Kultur als deren verschwiegene Grundlage in Stellung bringen. Übrigens soll wohl ein Begriff wie der der immateriellen Arbeit, von dem man seit einiger Zeit öfter liest, in die gleiche Richtung deuten. Wie auch immer, jedenfalls gibt es eine Art neoproletarischer Kulturalisierung mit ihrer zur Schau gestellten Anspruchslosigkeit.

Ein bildungsbürgerlicher Einwand könnte lauten, entsprechende Programme in Medien und im Leben kämen ohne die Diskrepanz eines Ideals aus. Reingefallen! Eine Kultur, die das schaffen würde, wäre keine mehr. Wenn sich diese Kultur durch einen hartnäckigen »Authentizismus« auszeichnet, wie Diederich Diederichsen das genannt hat, dann unterstellt sie sich auf ihre Weise eben auch einem Leitbild: »Leb so, wie du wirklich bist«. Woraus folgt, dass man es hier mit einer weiteren Spielart der Selbstüberforderung zu tun hat, wie sie der Hochkultur oder Kultur so teuer ist.

Gleichwohl besteht Eagleton, um auf ihn zurückzukommen, auf der Sonderstellung der Hochkultur. Sie ist halt doch etwas Besonderes, das heißt: Universales. Aber sobald er zu einem entsprechenden Plädoyer ansetzt, bemüht er Gedankenfiguren, mit denen er es dann selber nie lange aushält. Es handelt sich um Restposten mit einem fast unleserlich gewordenen »Hegel-Lukacs«-Etikett drauf:

»Kultur ist selbst der Geist der Menschheit, der sich in spezifischen Werken individuiert, und ihr Diskurs verknüpft das Individuelle und das Allgemeine, die Mitte des Selbst und die Wahrheit der Menschheit, ohne Vermittlung des historisch Partikularen.« Warum das so komisch alt oder nach Dialektik im Leerlauf klingt, scheint dem Autor allerdings durchaus klar zu sein, aber das war's dann auch: »Das Umsichgreifen von Kulturen hat Kultur zu unbehaglicher Bewusstheit genötigt.«

In der Konsequenz müsste das wohl heißen, dass man Kultur eigentlich nur noch ihrer eigenen Unmöglichkeit wegen gut finden kann, wegen dem, was sie vermeidet zu sein.

Terry Eagleton: Was ist Kultur? Aus dem Englischen von Holger Fließbach, Verlag C. H. Beck, München 2001, 189 S., 17,50 Euro