Dichter und Richter

Sportarten im Selbstversuch XII: Slam Poetry. von axel klingenberg

Diejenigen Autoren, die schon mal in die Verlegenheit gekommen sind, ihre Texte vor einem Publikum von weniger als zehn Personen vortragen zu müssen (also alle), sehen neiderfüllten Blicks auf die so genannten »Poetry Slams«. Zu solchen Dichterwettkämpfen erscheinen oft mehr Leute als zu manchen Rockkonzerten. Ähnlich wie die Freakshows des 19. Jahrhunderts haben sie eben viele begeisterte Fans. Leider ist dies jedoch nicht die einzige Ähnlichkeit, denn bei beiden Events werden die Zuschauer hauptsächlich durch eine gewisse Sensationslust angezogen. Man hofft, dass irgendeiner der anwesenden Autoren diesen Abend dazu nutzen wird, sich gnadenlos zu blamieren. Eine Hoffnung, die selten trügt.

»Aha«, höre ich Sie jetzt sagen – und ich finde, das klingt nicht nur voreilig, sondern auch etwas rechthaberisch – »dann sind Poetry Slams ja gar kein richtiger Sport.« Doch, antworte ich sogleich und kann meinen Triumph kaum verhehlen. Schon bei den antiken Olympischen Spielen – und das sind schließlich die ältesten Sportveranstaltungen der Welt – wurden Dichterkämpfe veranstaltet und den Siegern Lorbeerkränze über die Ohren gezogen. Bei den Zuschauern sollen die literarischen Kämpfe genauso beliebt gewesen sein wie die sportlichen.

Und auch am heutigen Tag füllen mehr als hundert Leute das Café des Jugendzentrums Neustadtmühle in Braunschweig. Das Publikum ist bunt gemischt, allem Anschein nach überwiegen jedoch Schüler, Studenten und Serienkiller. Die Startnummer wird durch Losentscheid festgelegt. Wie alle Glücksspiele verliere ich auch dieses und ziehe die Arschkarte, also die Nummer 9 von 9. Ich habe zu diesem Zeitpunkt schon das erste Bier getrunken, wenn ich so weitermache, werde ich, bis ich dran bin, reichlich indisponiert sein. Aber vielleicht ist das auch gar nicht so schlecht, denke ich so bei mir, denn dann bekomme ich von dem Elend vielleicht nicht ganz so viel mit. Doch ich reiße mich zusammen und halte mich an die alkoholfreien Getränke. Diese sportive Nüchternheit bedeutet auch, dass ich Herr meiner Sinne und somit Augen- und Ohrenzeuge der Auftritte meiner Konkurrenten bin.

Die Spannbreite der Autoren und der Texte ist beachtlich. Ein achtzigjähriger Herr reimt, was die deutsche Sprache hergibt, ein pubertierender Lyriker verzichtet dagegen vollständig nicht nur auf alle Reime, sondern auch auf jegliche Form von Rhythmus und Versmaß. Ein anderer unverstandener Dichter intoniert sehr akzentuiert ein lautmalerisches Gedicht über die Freuden des Autofahrens. Auch das Publikum brummt, genauso wie das Geschäft. Die Thekenkräfte haben alle Hände voll zu tun. Die vorlesenden Autoren erhalten übrigens unbegrenzt Freigetränke, was einigen deutlich anzuhören ist.

Wie im richtigen Sport gibt es auch hier richtige Fans. Der junge Punk, der jetzt die Bühne geentert hat, ist zwar nur schlecht zu verstehen – zu aufgeregt ist er und zu sehr nuschelt er –, doch sein vollzählig erschienener Freundeskreis bejubelt seine skurrilen Kurzgeschichten frenetisch. Ein Rapper rappt, wenn er nicht gerade wieder den Text vergessen hat, und ein Songwriter singt a capella einige Songs, die mir persönlich sehr gut gefallen, der Jury jedoch nicht. Sehr gut kommt allerdings ein Autor von Kurzprosa an. Die Pointen seiner Shortcuts sind mit »schwarzem Humor« nur unzureichend beschrieben. Das Publikum amüsiert sich nach den jeweils ersten Schrecksekunden ganz prächtig.

Da zwei Lyrikerinnen, die gemeinsam auftreten wollten, dem Moderator während des Slams mitteilen, dass sie auf einen Auftritt verzichten (»Das ist wohl doch nicht das Richtige für uns«), bin ich etwas früher dran. Auf einen Sieg spekuliere ich allerdings schon gar nicht mehr, es geht mir nur noch um das nackte Überleben.

Als erstes stolpere ich über das Mikrokabel, dann trete ich aus Versehen gegen das Lesepult. Die Freunde des zeitgenössischen Slapsticks sind schwer begeistert! Rasch beginne ich mit dem Vortrag, damit nicht noch mehr peinliche Dinge passieren. Das war zu schnell, die Menge ist noch zu laut, ich bin mir unsicher, wie viel sie vom Anfang der Story mitbekommen hat. Zumindest wissen die Zuhörer, worum es geht, denn sie geben meinem Pizzafahrer – die Geschichte handelt von den Leiden eines prekär Beschäftigten – gute Ratschläge, was er zu tun hat: »Benutz doch ’nen Routenplaner.« Dazu war mein Chef damals zu geizig, denke ich so bei mir, außerdem waren diese noch so unausgereift, dass man mit ihnen eher in den Salzgitter-Stich-Kanal gefahren wäre, als in die Stichstraße nach Salzgitter.

»Was mache ich eigentlich hier?« frage ich mich selbstkritisch, und es fällt mir schwer, eine befriedigende Antwort zu finden. Aber nun gut, ich habe es nicht anders gewollt und so darf ich mich nicht beschweren. »Beeil dich mal!« ruft da jemand, und ich weiß nicht, ob er mich meint oder den Helden meiner Geschichte, der heute noch trauriger ist als sonst, schließlich bringt ihm heute wirklich niemand Verständnis dafür entgegen, dass er sich in diesem gottverdammten und ziemlich hubbeligen Neubaugebiet verfahren hat. Der Kapitalismus frisst seine Kinder und er scheint heute so viel Hunger zu haben wie die Löwen im Circus Maximus.

Fast bekomme darob ich christliche Anwandlungen und wünsche mir ein bisschen Nächstenliebe, wenn nicht für mich, dann doch für den tapferen Protagonisten meiner Geschichte. Doch die Masse ist verroht, der wunderbare Wortwitz meines Textes geht genauso unter wie die feinen, leisen Zwischentöne und die natürlich total überraschende Pointe. Die Masse will Blut sehen, und wenn nicht Blut, dann irgendeine andere Körperflüssigkeit. Gegen Ende meiner fünfminütigen Lesezeit setzt ein recht enervierender Lärm ein, der lauter und lauter wird. Erst auf meine Bitte an den DJ, die zwei Absätze noch zu Ende lesen zu dürfen, wird der industrielle Lärm wieder heruntergefahren. Nur noch mal schnell über das Mikrokabel gestolpert, dann fix runter von der Bühne.

Der Applaus ist verhalten, die Wertung überrascht mich dann aber doch etwas: Ok, das war nicht mein bester Tag heute, ich gebe es zu, aber dass ich von einem Jury-Mitglied nur zwei Punkte für den Vortrag bekomme, empfinde ich doch als arg wenig. Damit komme ich natürlich nicht in die Endrunde, an der noch vier Dichter teilnehmen. Bei dieser gibt es dann keine Jury mehr, das Publikum bestimmt durch Länge der Akklamation den Sieger. Der Fanclub des jungen Punks gibt sich alle Mühe und klatscht sich die Hände blutig, ein anderer Teil der Zuhörerschaft bejubelt frenetisch den Mann mit dem Humor, der so schwarz ist wie seine Kleidung. Nach mehreren Versuchen herauszufinden, bei wem länger geklatscht wird, geben die beiden Moderatoren auf und küren zwei Sieger.

Später erfahre ich, dass ich den Fehler gemacht habe, zu Beginn der Veranstaltung die mir bekannten Personen in der Jury zu begrüßen, woraufhin ein Teil derselben glaubte, einem Komplott auf der Spur zu sein – ein Bestechungsskandal wurde vermutet. Auch alle anderen Teilnehmer suchen nach den Gründen, warum ausgerechnet sie nicht gewonnen haben. Schuld ist wahlweise die Jury, das Publikum, der persönliche Gesundheitszustand oder die allgemeine Schlechtigkeit der Welt.

Irgendwann kommt noch eine junge Frau auf mich zu und sagt mir, dass sie auch nicht verstünde, warum ich nicht in die Endrunde gekommen bin. Das beruhigt. Nächstes Mal, schwöre ich, mach ich da nicht mit, nein. Und wenn, dann nur gedopt. Dann lasse ich mir am nächsten Tag erzählen, wie ich war.