Voetbal is oorlog

Zum Tod des niederländischen Fußballtrainers Rinus Michels. von udo van lengen, amsterdam

Der Tod von Rinus Michels ist eine Nachricht, die östlich der Linie Borkum – Aachen Fussballfans trauern und betroffene Sportredakteure kleine Nachrufe verfassen lässt. Westlich dieser Linie aber hielt an diesem Tag ein ganzes Land inne, um eines großen Trainers zu gedenken. Trauernde Autofahrer, die morgens wegen des heftigen Schneefalls zwischen Groningen und Rotterdam im Stau standen, erzählten ebenso festsitzenden Radioreportern von ihren Erinnerungen an Rinus Michels. Die Fernsehstationen unterbrachen ihr Programm, zeigten Michels größte Erfolge und vergaßen auch nicht die Geschichte des kleinen Jungen, der Michels fragte: »Hey, Rinus. Gibst du mir ein Autogramm?«Der antwortete darauf: »Weil du so lieb gefragt hast, gibt dir Herr Michels ein Autogramm.«

Auch die Mittagszeitungen erschienen mit Sonderseiten, und Ministerpräsident Jan Peter Balkenende erklärte: »Rinus Michels hatte an der Seitenlinie dieselbe Bedeutung für den niederländischen Fussball wie Johan Cruijff auf dem Feld.« Cruijff, der unter Michels zum Weltfußballer reifte, sagte: »Er war einer, der immer klar und deutlich sagte, was er plante, was er von einem verlangte und wie er das erreichen wollte, wobei er dabei ab und zu etwas übertrieben hat.«

Marinus Jacobus Hendricus Michels wurde 1928 in Amsterdam-Zuid in der Nähe des damals gerade errichteten Olympiastadions geboren. An Beinamen für ihn mangelte es zeit seines Lebens nicht: der General, der Bulle, der Sklaventreiber, Pokerface, die Sphinx, der Meister, der Scharfrichter, Dickkopf. Sie spiegeln das Bild des eigenwilligen Mannes wider, dessen Karriere als Spieler 1947 bei Ajax Amsterdam begann. Im Endspiel um die Meisterschaft ersetzte er den verletzten Mittelstürmer und erzielte gegen den Gegner ADO Den Haag fünf Tore. »Danach war ich eine feste Größe in der ersten Mannschaft«, sagte Michels. 1951 spielte er kurzzeitig beim französischen Club Lille, der ihn für die damals ungeheure Summe von 25 000 Gulden unter Vertrag nehmen wollte. Doch die niederländische Armee machte ihm einen Strich durch die Rechnung. »Als ich mit dem Scheck nach Hause kam, lag mein Einberufungsbefehl im Briefkasten. Die Autoritäten ließen sich nicht erweichen. Es blieb mir nichts anderes übrig, als den Scheck zurückzuschicken.«

Nach der Militärzeit studierte er Sportwissenschaften, arbeitete als Lehrer an einer Taubstummenschule und erwarb nebenbei die Fußballlehrerlizenz. Aus eigenem Interesse: »Wenn es in den Niederlanden bessere Trainer gegeben hätte, wäre ich ein besserer Spieler geworden.« Als Michels 1965 Trainer bei seinem alten Verein Ajax wurde, übernahm er eine schwierige Aufgabe. Der Club war mittlerweile im Mittelmaß eines fußballerisch irrelevanten Landes versunken. Michels wollte beide in die erste internationale Liga führen, indem er in kurzen und bündigen Sätzen professionelle Strukturen und ebensolche Spieler einforderte. »Bezahlter Fussball ist kein Spiel«, »Training ist Arbeit«, »pünktlich anfangen«, »keine Simulanten«, »keine Ausflüchte« und »Im Profifußball gibt es keine Freundschaften«, so lauteten seine Kurzmitteilungen.

Der Erfolg aber stellte sich nicht so einfach ein. Nach einem Spiel gegen Arsenal um den Messecup 1969, einen Vorläufer des Uefa-Cup, seufzte Michels: »Mit diesen Tabakhändlern werde ich niemals gewinnen.«

Bald danach waren die Zeiten der Spieler, die den Status des Halbprofis behalten und tagsüber einem normalen Beruf nachgehen wollten, vorbei. Fußball oder Büro, Michels verlangte eine Entscheidung von ihnen. Diejenigen, die blieben, stöhnten aber unter den ungewohnt scharfen Trainingsbedingungen. Johan Cruijff erinnerte sich: »Wir waren einfach nur Nummern. Du hörtest auf, als Mensch zu existieren.« Die Spieler hatten Respekt vor ihm, und Michels verlangte ihn auch. Wer ein Tief durchmachte, musste nach dem Training Bälle aus den Wassergräben klauben. So geschah es auch dem jungen Ajax-Fußballer Arnold Mühren. Als er nach einer halben Stunde mit dem Ballnetz in die Umkleidekabine kam, sagte Michels: »Hast du alle 17 zusammen, mein Junge?« Mührens antwortete ängstlich: »Nein, Herr Michels, 16.« »Das ist gut. Sonst hättest du einen zu viel mitgebracht.«

Es gibt viele solcher liebevollen Anekdoten von Fußballern, die sich irgendwann bei Michels durchgesetzt hatten. Aber dazu gehören auch Leidensgeschichten von Spielern, die mit seiner Arbeitsweise nicht zurechtkamen. Wer seinen Forderungen nicht genügte, musste gehen. Einige Dutzend Fußballer bekamen das zu spüren. In ihrem Gedächtnis hat sich Michels als gnadenloser Trainer eingegraben. Benny Muller etwa nannte den Trainer einen puren Egoisten, der ihn beinahe kaputt gemacht habe.

Erfolge jedoch brachten die rigorosen Methoden von Michels ein. Er gilt als einer der Wegbereiter des niederländischen Profifußballs. Er hatte das Glück, mit einer äußerst talentierten Generation arbeiten zu können, die mit seinen Trainingsmethoden etwas anzufangen wusste. Nur ein Jahr nach der Niederlage gegen Arsenal wurde Ajax niederländischer Meister, und 1971 gewann man sogar den Europacup der Landesmeister.

Michels gilt als Erfinder des »totalen Fußballs«, einer Taktik, bei der die Abwehr mit angreift und der Sturm mit verteidigt. Die von ihm angeleiteten Spieler rissen die Zuschauer zu Begeisterungsstürmen hin, und der Trainer persönlich erwarb sich große internationale Anerkennung. Bis 1992 trainierte er unter anderem den FC Barcelona, den 1. FC Köln, Bayer Leverkusen sowie mit mehreren Unterbrechungen die niederländische Nationalmannschaft. Unter seiner Leitung wurde die Elf 1974 Vizeweltmeister und 1988 Europameister, bis heute ihr einziger großer Titel.

Michels war jedoch nicht nur ein großer Trainer, sondern auch ein Mann der klaren Worte. »Spitzenfußball ist wie Krieg. Bist du zu lieb, bist du verloren.« Verkürzt wurde daraus: »Voetbal is oorlog!« (Fußball ist Krieg) – eine Interpretation, gegen die Michels sich immer gewehrt hat.

Zur Realität aber wurde der Spruch bei Duellen zwischen der niederländischen und der deutschen Fußballnationalmannschaft. Viele Niederländer verlangten Genugtuung von den Deutschen. Die niederländischen Spieler sollten mit einem Sieg auf dem Fußballplatz den Terror der »Moffen« während der Nazizeit rächen. Die Erschütterung war dementsprechend groß, als das Finale der WM 1974 in München verloren ging. Dabei hatte man doch den besseren Fußball gespielt. In dem Match waren die Niederländer schnell in Führung gegangen, aber ein umstrittener Elfmeter und ein typisches Gert-Müller-Tor bedeuteten die Niederlage. Erst 14 Jahre später gelang in Hamburg während des Halbfinales der Europameisterschaft die Revanche. Michels führte seine Spieler endlich zu einem Sieg über die Deutschen und versetzte die niederländische Bevölkerung in Ekstase. Damals hat er sich einen festen Platz in der Geschichte der Niederländer erobert.

Rinus Michels starb am frühen Morgen des 4. März nach einer Herzoperation in einem Krankenhaus im belgischen Aalst. Er wurde 77 Jahre alt.