Verdammte Repräsentation

Während der Erfolg der linken Parteien in Lateinamerika bei vielen Hoffnungen weckt, wachsen die Kritik an der institutionellen politischen Macht und die Notwendigkeit einer Gegenmacht. von andrés pérez gonzales, santiago de chile

Man erfährt nur wenig von den linken Regierungen in Lateinamerika und darüber, was sie mit ihrer neuen Macht anfangen werden. Wirkliche strukturelle und emanzipatorische Veränderungen werden kaum von oben kommen können. Wenn sich eine politische Führung, die früher davon ausgeschlossen war, an den formalen Entscheidungen beteiligt, dann wird das als Reformpolitik oder bloße Fortführung des Bestehenden aufgefasst. Trotz allem bleibt diese Logik bestehen, nach der die Eliten untereinander kämpfen, um sich schließlich in das zu verwandeln, was Gaetano Mosca die »politische Klasse« nannte. Und dieser Kampf um die Macht nimmt in dieser Region einen oligarchischen Charakter an.

Sicherlich, das Regieren besänftigt den Drang der früher heißblütigen Anführer. Zweifellos war das bei Luiz Inacio Lula da Silva in Brasilien der Fall, der die Einfachheit und die Radikalität des Gewerkschaftsführers hinter sich gelassen hat, um Anzug und Krawatte anzuziehen und um die neoliberale Wirtschaftspolitik fortzuführen. All das erklärt seine Runderneuerung.

Das betrifft auch Evo Morales, den ehema­ligen Kokabauern, der zum neuen indigenen Präsidenten in Bolivien mutiert ist. Er erfreut sich einer immer größeren Beliebtheit. In den Wahlen errang er 54 Prozent der Stimmen, aber nach einer Meinungsumfrage, die in der Tageszeitung La Razon veröffentlicht wurde, unterstützen 74 Prozent seine Politik, seit er die Macht übernommen hat.

Dass ein Indígena, ein Aymara, in Bolivien oder eine Frau wie die Sozialistin Michelle Bachelet in Chile die Macht übernimmt, bedeutet aber nicht so sehr einen Schlag gegen das Establishment wie die Bestätigung und Verstärkung des herrschenden politischen und ökonomischen Systems. Das bedeutet, dass Entscheidungen weiterhin oben getroffen werden, das bedeutet Parteiherrschaft und in den meisten Fällen den Ausschluss des größten Teils der Bevölkerung, die sich dem täglichen Kampf ums Überleben stellen muss gegen einen Markt, der ungreifbar und hegemonial ist.

Die Weltbank selbst hat neulich vor den verheerenden Konsequenzen der sozialen Ungleichheit in der Region gewarnt, ohne Konsequenzen daraus zu ziehen. Sie bestätigt, dass die reichsten zehn Prozent der Bevölkerung in Lateinamerika 48 Prozent der Einkommen besitzen, während die ärmsten zehn Prozent kaum 1,6 Prozent besitzen.

Morales entschuldigte sich vor kurzem bei dem scheidenden chilenischen Präsidenten, Ricardo Lagos, und bei dem US-amerikanischen Gesandten für den schlichten Zustand seiner Wohnung, in der er sie wilkommen geheißen hatte, und für sein offensichtliches Unwissen über das diplomatische Protokoll. Sein gestreifter Pullover wurde schließlich berühmt. Aber als er vor den Behörden seine Güter und Einkommen offenlegen musste, kam heraus, dass er 109 778 Dollar netto sein Eigen nennt, für bolivianische Verhältnisse ein Vermögen. Einen Teil dieses Geldes hat er seit dem Jahr 1997 als Parlamentarier verdient. Ein anderer Teil besteht aus geerbten Ländereien in Chapa und aus einem Trostpreis in Höhe von 15 000 Dollar, den er erhielt, als er für den Friedensnobelpreis nominiert worden war. Im Jahr 2001 erklärte er, dass er 50 000 Dollar von der Gaddafi-Stiftung aus Libyen bekommen habe. So betrachtet, ist Morales’ »Bescheidenheit« eher Teil eines bewusst gepflegten Images.

Nur weil Michelle Bachelet eine Frau ist, glaubt die westliche Mainstreampresse einen Bruch zu erkennen, den sie repräsentieren soll. Man ist auf eine absurde Art begeistert vom biologischen Unterschied zu ihrem Vorgänger Ricardo Lagos und verwischt so die offensichtliche ideologische Kontinuität. Die Sozialistin Bachelet wurde insbesondere in der französische Mitte-Links-Presse gefeiert, wo man gleichzeitig eine starke Werbekampagne für die französische Sozialistin Segolène Ro­yale durchgeführt hat. Diese wiederum hat, nebenbei gesagt, an der Wahlkampagne von Bachelet in Chile teilgenommen.

Marc Cooper, ein amerikanischer Journalist der Zeitschrift The Nation und ehemaliges Mitglied der Presse­agentur von Salvador Allende, ist da skeptischer. In der Los Angeles Times begrüßte er den Symbolismus der Figur Bachelet: Eine alleinstehende Mutter und Atheistin wurde zur Präsidentin gewählt in einem Land, in dem man die regierende Elite als konservativ bezeichnen könnte. Trozdem scheint Cooper nicht viel von Bachelet zu erwarten. Er erinnert sich an die chilenischen Sozialisten, die überhaupt nichts getan hätten, um die soziale Ungleichheit zu beenden, die aus der Einführung des rohen Kapitalismus der Chicago Boys resultiert habe. Cooper vermutet, dass Bachelet dieselbe Richtung verfolgen wird. Er fordert von ihr eine Reform des Rentensystems und der Krankenkassen, eine Begrenzung der Löhne der Militärs und dass sie den früheren Diktator Augusto Pinochet vor Gericht bringt.

In einem Land, das noch immer von den Verbrechen der Diktatur gezeichnet ist, gleichen sich die pseudoliberale Rechte und die sozialdemokratische Linke in einem nationalen Konsens aus, der auf der bloßen Verwaltung des neoliberalen Wirtschaftsmodells fußt.

Der Kolumnist der mexicanischen Morgenzeitung La Jornada, José Seinsleger, bringt es auf den Punkt: »Die ›sozialistische‹ Präsidentin löscht in ihrer Rede jegliche Konnation oder Vokabel aus, die mit den Kategorien von Ausbeutung, Entfremdung, Unterdrückung, Volksherrschaft verbunden ist. In diesem Sinne würde der ›Sozialismus‹ von Frau Bachelet für den Sozialismus das sein, was der ›christliche Humanismus‹ für die christliche Demokratie war, was der ›Kommunismus‹ für die Regierung der Volksrepublik China war oder was der ›freie Markt‹ für den fairen Handel ist.«

Das ist sicherlich so, weil die »sozialistische Revolution« schon tief im Kofferraum der Erinnerungen, Illusionen und Enttäuschungen liegt. Und zwar deshalb, weil die Revolution sich immer der Logik der politischen Macht zugewandt hat, die ihren Kontrollapparat aus dem Gewaltmonopol des Staats errichtet. Die Alternative könnte in der Unmenge von neuen organisatorischen Praktiken bestehen, die bewusst oder unbewusst ihre Aktionen von dem abgrenzen, was man den Weg zur »sozialen Revolution« nennen könnte. In diesem Zusammenhang kann man die Landlosenbewegung aus Brasilien anführen oder die Piqueteros und die Arbeitslosen aus Argentinien, die mit ihren regelmäßigen Straßenblockaden berühmt geworden sind.

Wahrscheinlich bezieht sich Naomi Klein auf diese Erfahrungen, wenn sie Lateinamerika mit einem »Vulkan« vergleicht. Dieses soziale Gären, das sie beobachtet, hat mit seinen ephemeren Ausbrüchen von Radikalität im Jahre 2003 dazu geführt, dass der damalige bolivianische Präsident Gonzalo Sánchez de Lozoda sein Amt niederlegte und nach Miami flüchtete. Im Jahr 2005 erlebte sein Nachfolger Carlos Mesa das gleiche Schicksal, wie auch sein Amtskollege Fernando de la Rúa im Jahr 2001 in Argentinien.

Nach dem Analysten Sebastián Briozzo von Standard & Poors gibt es zwei verschiedene Faktoren, mit denen die jüngste Tendenz, linke Parteien zu wählen, erklärt werden kann. Auf der einen Seite ist es die umsichtige Wirtschaftspolitik dieser Parteien – ein Ruf, den man sich durch die Führung lokaler Regierungen erworben hat –, die Stimmen aus dem Teil der Mittelklasse gewinnt, der eine soziale Agenda bevorzugt. Diese Phänomen ist besonders deutlich in Brasilien und Uruguay zu erkennen und bestätigt sich in Chile. Auf der anderen Seite gibt es die Sichtweise, dass keine der traditionellen politischen Parteien die Lage des normalen Bürgers und insbesondere der Armen überhaupt verbessern könnte.

Dieses Phänomen kann man zurzeit in den Andenländern beobachten, insbesondere in Peru, wo Ollanta Humala derzeit der Favorit für die Wahlen zum Präsidenten ist. Er ist ein pensionierter nationalistischer Militär, der seine Rolle als Outsider politisch auszunutzen wusste. Diese Taktik haben damals auch der heutige peruanische Präsident Alejandro Toledo und der autoritäre ehemalige Präsident Alberto Fujimori benutzt. Nach einem selbst gewählten Exil in Japan steht Fujimori heute in Santiago de Chile unter Arrest und wartet auf einen Auslieferungsantrag, um sich den eingeleiteten Verfahren in Lima zu stellen.

Für den mexikanischen Schriftsteller Carlos Fuentes stellen die Linken aus Lateinamerika einen »Gemischtwarenladen« dar, in dem man einen »tropischen Mussolini«, wie er den Venezolaner Hugo Chá­vez bezeichnet, ebenso finden kann wie den Chilenen Ricardo Lagos, der nach dem Urteil von Fuentes die erfolgreiche Formel für das Gleichgewicht zwischen Markt und Staat finden könnte.

Letztlich ist die jüngste Welle von linken Wahlsiegen in dieser Region, mit Ausnahmen und Zwischentönen, eher eine Folge des Vakuums, das eine Hinterlassenschaft der vorhergehenden Zerstörungen und Frustrationen ist, als ein Resultat des Aufbaus alternativer oder pragmatischer Macht. Heute sollte man zur Kenntnis nehmen, was im Jahr 1999 von einigen Mitgliedern des »Colectivo Situaciones« in Buenos Aires gesagt wurde: »Wähle das, was du kannst, und baue das, was du willst.«

In einer radikalen und emanzipato­rischen Perspektive müsste man sich endgültig lösen von der Konfusion der politischen Macht und an die Bildung einer Gegenmacht glauben und diese stärken. Das »Colectivo Situaciones« hat bereits die gleiche Schlussfolgerung gezogen: »Das nennen wir die Politik der Macht: wachsen, Propaganda machen, eine Fakultät haben, zwei Fakultäten, zwei Gewerkschaften, drei Stadtviertel. Wir sagten, gut, für Jahrzehnte war das die Strategie der Revolutionäre. Aber es gibt Leute, die etwas anders machen. Wir wissen noch nicht genau, was es ist, aber man kann sprechen, sich austauschen. Wir tauchten unseren Kopf unter Wasser. Und wir sahen: Da liegt die Macht. Wir interessieren uns nicht mehr für die andere Sprache: Wir wollen etwas anderes probieren.«