Ein Wunder, das keins war

Kein Grund zum Hype: Wenn am 16. Juni bei der Fußball-EM Deutschland 30 Jahre nach der Schmach von Córdoba wieder auf Österreich trifft, steht wie damals wenig auf dem Spiel. von ralf höller

Die Deutschen glauben an das »Wun­der von Bern«, die Österreicher klammern sich an den »Mythos von Córdoba«. Beides könnte unterschiedlicher nicht sein. Bei der WM 1954 gewann der Außenseiter gegen den Favoriten, weil er mit der 3:8-Nie­der­lage in der Vorrunde den Grund­stein gelegt hatte: Die Ungarn nahmen die Deut­schen im Finale nicht ernst; zudem hatte Vertei­diger Werner Liebrich Ungarns besten Stürmer Ferenc Pus­kás derart zusammengetreten, dass dieser für den Rest des Turniers lahmte. Aber Deutschland war Weltmeister. Ganz anders bei der WM 1978: Da gewann der Außenseiter gegen den Favoriten, weil es – wie der Wie­ner sagt – eh’ wurscht war. Am Ende standen beide Teams mit leeren Händen da.

Es gibt ein »Lexikon der Fußballmythen«. Darin ist ausführlich die Rede von Córdoba, vom Sieg der österreichischen über die deutsche Elf, vom letzten Tor, das Hans Krankl schoss, von Edi Fingers Radioreportage: »Dann, kurz vor Schluss, das berühmte 3:2, Pass Prohaska, ­Krankl dribbelt an Rüßmann und Kaltz vorbei (…). Und Edi Finger: ›Tor, Tor, Tor, Tor, Toooor! I und der Inge­nöör Nußbaumer, wir fall’n uns um den Hals, wir busseln uns ab.‹« Die Erinnerung an das Spiel und den Kommentar wird in den kom­men­den Monaten oft genug heraufbeschworen werden, stehen sich doch beide Mann­schaften fast auf den Tag genau 30 Jahre später bei einem gro­ßen Turnier erneut gegenüber. Das ist es aber auch schon, was es mit dem »Mythos Córdoba« auf sich hat.

Bei der WM in Argentinien wurde das Viertel­finale in zwei Vierergruppen ausgespielt: Österreich hatte bereits zweimal verloren, die Deutschen konnten nach zwei Unentschieden gegen Italien und die Niederlande nur noch das Spiel um den dritten Platz erreichen. Entsprechend lustlos wurde gekickt. Die letztmals von Helmut Schön betreute Elf war nach Rummenigges frühem 1:0 davon ausgegangen, auf keine Gegenwehr mehr zu stoßen. Das bewahrheitete sich – bis Berti Vogts nach einer Stunde mit einem dilettantischen Eigentor den Gegner zurück ins Spiel brachte. Dem österreichischen Führungstreffer durch Krankl folgte postwendend Hölzenbeins Ausgleich. Dann kam jene Szene aus der 89. Minute, die erst durch Fingers immer wieder eingespielte Worte Kultstatus erlangt hat. Wichtig war sie nicht.

Beim nochmaligen Abhören fällt auf, dass die Realität der Wiedergabe im »Lexikon der Fuß­ballmythen« keineswegs entspricht. Nicht Herbert Prohaska schildert Finger als Flankengeber, sondern Robert Sara. Ein »Ingenöör Nuß­bau­­mer« ist auch nicht zugegen. »Abgebusselt«, wenn auch nur symbolisch, wird dagegen der Deutsche Rüdiger Abramczik, der seine Chance vergibt: »Also der Abramczik«, so der Reporter, »abbusseln möcht’ i den Abramczik dafür. Jetzt hat er uns geholfen, allein vor dem Tor stehend. Der brave Abramczik hat danebengeschossen.« Dann war Schluss.

(Hier noch mal der Original-Reportertext, falls eine Neuauflage des Lexikons geplant ist: »Jetzt kann Sara einen aussichtslos scheinenden Ball auf der rechten Seite hereinholen, es gibt Beifall für ihn. Da kommt Krankl – vorbei diesmal an seinem Bewacher – in den Strafraum. Schuss – Tor! Tor! Tor! Tor! Tor! Tooooor!!!!! I wear narrisch. Krankl schießt ein, drei zu zwei für Österreich! Meine Damen und Herren, wir fallen uns um den Hals, wir liegen uns in den Armen, der Kollege Riepl, der Diplomingenieur Posch, wir busseln uns ab … «)

Die Besonderheit von Fingers Reportage liegt darin, dass ein Reporter beim ekstatischen Torjubel statt der Vornamen Funktion und Titel der Menschen nennt, die er gerade »abbusselt«. Zwar hatte Österreich nach 47 Jahren wieder einmal gegen Deutschland gewonnen. Das stell­te sich jedoch als ebenso angenehm wie nutzlos heraus. In einem sensationell begonnenen Turnier – Erster in der Vorrundengruppe mit Brasilien, Spanien und Schweden! – waren die Österreicher von Holland verhängnisvoll mit 1:5 ausgekontert worden, von einer Elf, die ausgerechnet ein Landsmann trainierte: Ernst Happel.

Gegen Italien gab es das typische 0:1, gegen ein überhebliches Deutschland kam die Motivation erst im Lauf der Partie: »Für die österrei­chischen Fußballer war es wie ein Spiel um den Titel«, schrieb Die Presse aus Wien, aber auch nicht mehr, denn um den Titel spielten andere. Die Österreicher »waren aufgeladen mit Emo­tionen, sie fühlten sich allein durch den Gegner provoziert, herausgefordert zu einer Sonderleistung – spielerisch und kämpferisch. Hier ging es darum, sich selbst zu bestätigen, die Ebenbürtigkeit unter Beweis zu stellen, jetzt wuchs man mit dem Riesen. Und siehe da, der Riese schrumpfte.«

Bei der nächsten WM in Spanien schrumpfte der Riese vollends. Und die Österreicher mit ihm. 1982 kam es zu einer erneuten Begegnung beider Mannschaften, die deutlichere Auswirkungen hatte als die Schmach von Córdoba: Das letzte Vorrundenspiel in Gijón war gleichzeitig das bislang letzte Aufeinandertreffen bei einem internationalen Turnier. Im geheimsten Nichtangriffspakt seit der Ribbentrop-Molotow-Über­einkunft einigten sich beide Mannschaften darauf, nach exakt elf Minuten alle Kampfhandlungen einzustellen. Zu diesem Zeitpunkt hatte Horst Hrubesch per Knie ein Tor erzielt, das beiden Teams ein Weiterkommen sicherte.

Leidtragender dieser Begegnung von wirklich großer Bedeutung war Algerien. Eine Tageszeitung aus dem Land der Geschädigten, El Moudjahid, kommentierte: »Niemals ist der Fußball so pervertiert worden wie von den beiden angeblich großen Mannschaften. Niemals hat es bei einer Weltmeisterschaft einen größeren Skandal gegeben.«

Die am Spielort Gijón ansässige Zeitung El Comercio ließ ihren Spielbericht lieber gleich als Polizeibericht erscheinen: »26 deutschsprachige Bürger aus der Bundesrepublik und Österreich haben Betrug in Höhe von zwölf Millionen Pese­tas an 40 000 Zuschauern begangen. Verdächtigt des Betruges sind Jupp Derwall (Beruf: Trainer) und Georg Schmidt (ebenfalls Beruf: Trainer) sowie Schumacher, Stielike, Kaltz, Förster, Briegel, Dremmler, Breitner, Magath, Littbarski, Hrubesch, Rummenigge, Matthäus, Fischer; Kon­cilia, Obermayer, Krauss, Pezzey, Degeorgi, Prohaska, Hattenberger, Hintermaier, Weber, Schach­ner und Krankl.«

Wenn am 16. Juni Österreich und Deutschland bei der Europameisterschaft in Wien aufeinandertreffen, ist keine Begegnung von großer Dra­matik zu erwarten. Bis dahin werden die Entscheidungen wohl gefallen sein: Gelingt den Gast­gebern ein Auftakterfolg gegen Kroa­tien, sind für Trainer Josef Hickersberger und seine Elf auch die Polen kein unbezwingbarer Gegner.

Ähnlich die Deutschen: Ein Sieg zu Beginn gegen Polen ist durchaus möglich. Diesem könnte ein zweiter Erfolg gegen angeschlagene Kroaten folgen. Dann hätten Deutschland und Öster­reich jeweils sechs Punkte auf dem Konto und wären fürs Viertelfinale qualifiziert. Auch andere Szenarien sind denkbar: Deutschland gewinnt, Österreich versägt seine beiden ersten Spiele. Oder umgekehrt. Die Folgen wären die gleichen: Beide Nationen könnten ihre jeweilige B-Elf auflaufen lassen. Edi Finger junior – er arbeitet wie sein 1989 verstorbener Vater als Radioreporter – müsste in Ermangelung anderer Anwesender seinen Köter Speedy abbusseln. Einen Polizeibericht würde es auch nicht geben. Es sei denn, die Hooligans beider Länder verabredeten sich.