Das neue Hartz-IV-Urteil

Mit Schnittblumen trösten

Nach Ansicht des Berliner Sozialgerichts verstößt die Berechnung des ALG-II-Regelsatzes gegen das Grundgesetz. Verbesserungen sind von dem Urteil jedoch nicht zu erwarten.

Mit der sogenannten Menschenwürde muss es etwas ganz Außergewöhnliches auf sich haben. Dem deutschen Grundgesetz zufolge ist sie unantastbar. Es gibt kein Parteiprogramm, in dem ihre Bewahrung nicht zum obersten Ziel erklärt würde. Bundeskanzlerin Angela Merkel fühlt sich nach eigenen Aussagen der Würde des Menschen ganz besonders verpflichtet. Der jeweils amtierende Bundespräsident ist Schirmherr des »Roland-Berger-Preises für Menschenwürde«, der mit einer Million Euro dotiert ist.
Die Menschenwürde selbst ist dagegen recht günstig zu haben. Der Einstiegspreis liegt derzeit bei 374 Euro im Monat. Diesen Betrag gesteht die Bundesregierung Empfängern des Arbeitslosengeldes II als »menschenwürdiges Existenzminimum« zu. Die 55. Kammer des Berliner Sozialgerichts urteilte in der vergangenen Woche jedoch, dass mit dem ALG II das Grundrecht auf ein »menschenwürdiges Existenzminimum« nicht gewährleistet werde. Die Richter wollen ihren Beschluss dem Bundesverfassungsgericht (BVerfG) vorlegen. Es soll prüfen, ob die Berechnung der Hartz-IV-Sätze verfassungsgemäß erfolgt.
Carolin Butterwegge, die sozialpolitische Sprecherin der Linkspartei im nordrhein-westfälischen Landtag, ist deshalb ziemlich aus dem Häuschen. »Eine schallende Ohrfeige für die Hartz-IV-Parteien CDU, FDP, SPD und Grüne« sei das Urteil. Auch andere Politiker der »Linken« und Vertreter von Sozialverbänden zeigten sich erfreut. Doch weshalb eigentlich? Erst im Februar 2010 hatte das BVerfG die Berechnung des Hartz-IV-Satzes für verfassungswidrig erklärt. Daraufhin ließ Arbeitsministerin Ursula von der Leyen (CDU) nochmal nachrechnen, im Februar 2011 einigte sich der Bundestag auf die sogenannte Hartz-IV-Reform. Ganze fünf Euro mehr im Monat sprangen für die Empfänger von ALG II heraus, und einige Neuerungen, die ihren Status als vom Markt aussortierte, staatlich alimentierte Verwaltungsobjekte verfestigen, wie etwa die Ausweitung des Gutscheinwesens oder die Beschränkung des sogenannten Gründungszuschusses. Was von einer erneuten Verhandlung vor dem BVerfG zu erwarten ist, hat das Berliner Sozialgericht in seinem Urteil bereits vorgerechnet: Schon mit 36,07 Euro mehr im Monat ließe sich das »menschenwürdige Existenzminimum« sichern.
Grundsätzliche materielle Verbesserungen sind also nicht zu erwarten, zumal bisher Gerichte anderer Bundesländer und selbst die 18. Kammer des Berliner Sozialgerichts nichts gegen die Berechnung des ALG-II-Satzes einzuwenden hatten. Wen die inflationäre Rede von der »Menschenwürde« noch nicht vollends zynisch gemacht hat, der kann es mit Ernst Bloch halten: Erst ein Ende jeglicher Not ließe die nötige Freiheit für die Menschenwürde entstehen. Allein der Begriff »Existenzminimum« verweist jedoch darauf, dass dieses Ende nicht absehbar ist, ganz zu schweigen von einer Wirtschaftsweise, die Menschen überflüssig macht und sie der staatlichen Verwaltung und Disziplinierung unterwirft. Da sind die Schnittblumen, die sich die ALG-II-Empfänger nach Ansicht der 55. Kammer des Berliner Sozialgerichts mit 36 Euro gelegentlich leisten können sollen, ein schlechter Trost.