Über den Trainer von Athletic Bilbao

Verrückter als beschrieben

Mit seinem Trainer Marcelo Bielsa zieht Athletic Bilbao zum ersten Mal seit 35 Jahren wieder in ein europäisches Finale ein.

Das Ende des Halbfinalrückspiels zwischen Athletic Bilbao und Sporting Lissabon hätte man sich nicht schöner vorstellen können. 88. Minute, Ibai Gómez bekommt den Ball links an der Strafraumgrenze, mit einer Finte verschafft er sich gegenüber seinem Gegenspieler Platz, gerade so viel, um den Ball nach innen zu flanken, wo Fernando Llorente – wer sonst – hart bedrängt irgendwie den Fuß in die Flugbahn bekommt. Der Ball springt an den Innenpfosten, als brauche er noch einen Moment, um zu entscheiden, ob dieses intensive Spiel nicht eine Verlängerung verdient hat, und trudelt dann hinter die Torlinie. Das Stadion San Mamés, »die Kathedrale«, bis auf den letzten Platz gefüllt mit einem begeisterten Publikum, das seine Mannschaft bis dahin bedingungslos angefeuert hatte, explodiert in Rot und Weiß. Ein unglaubliches Tor, das Tor, das Athletic Bilbao nach 35 Jahren wieder in ein europäisches Endspiel bringt.
Athletic Bilbao ist mit acht Meisterschaften und 24 Pokalsiegen einer der großen Clubs des spanischen Fußballs und neben Real Madrid und dem FC Barcelona als einziges Team nie aus der Primera División abgestiegen. Doch der letzte Titel liegt bereits 28 Jahre zurück. Unter Javier Clemente wurde 1984 das »Double« gewonnen – in der Liga wurde Real Madrid aufgrund der Tordifferenz überflügelt und in einem skandalträchtigen Pokalendspiel Menottis Barcelona mit Starspieler Maradona bezwungen. Doch das ist lange her. In den vergangenen Jahren dümpelte Athletic in der Liga meist im Mittelfeld herum oder kämpfte gegen den Abstieg.
Ein Grund dafür ist, so hat es den Anschein, dass man weiterhin nur auf baskische Spieler setzt. Was in Zeiten des globalisierten Fußballs nach dem Bosman-Urteil als Anachronismus anmutet, macht aber die Identität von Athletic Bilbao aus. Jupp Heynckes, von 2001 und 2003 Trainer bei Bilbao, sah es positiv: »Man hat so den Vorteil, dass das Team sehr homogen ist. Dort herrscht ein außergewöhnlicher Teamgeist.« Und eine außergewöhnliche Verbundenheit mit den Anhängern. Seit der Franco-Diktatur, als alles Baskische verboten und unterdrückt wurde und der Verein sich in Atlético de Bilbao umbenennen musste, gilt der Club seinen Fans als baskische Nationalmannschaft. Im Stadion auf Baskisch zu singen, wurde zu jener Zeit als politischer Akt verstanden. In gewisser Weise ist das bis heute so. Wer einmal die hitzige Atmosphäre eines Heimspiels gegen Real Madrid erlebt hat, das den spanischen Zentralstaat repräsentiert, wird wissen, wovon die Rede ist. Alle anderen können es sich vielleicht ausmalen.
Mit der Verpflichtung von Trainer Marcelo Bielsa zu Saisonbeginn ist das Vertrauen, Großes zu erreichen, zurückgekehrt. Wie in seiner ersten Trainerstation bei Newell’s Old Boys in Argentinien hat er eine Mannschaft aus jungen, talentierten Spielern wie Javier Martínez, Ander Herrera, Iker Muniain oder Markel Susaeta angetroffen, laufstark, dynamisch, bestens ausgebildet und in der Lage, Bielsas Idee vom Fußball auf dem Spielfeld umzusetzen.
Für den Trainerposten hat Bielsa ein Angebot von Inter Mailands Präsident Massimo Moratti ausgeschlagen, der das wahrscheinlich immer noch nicht glauben kann. Bielsa aber passt perfekt nach Bilbao und zu dem Verein mit seiner Tradition, der Verbundenheit von Spielern, Angestellten, Clubführung und Anhängern, der leidenschaftlichen Art, Fußball zu spielen. Das große Verdienst des Trainers ist es, dieser Leidenschaft eine Spielidee hinzugefügt zu haben. Bielsa hat Athletics traditionelle Identität als »englischstes« Team in Spanien, das meist mit langen, hohen Bällen in die Spitze operierte, verändert und ihm, pointiert ausgedrückt, die Angst vor dem Ball genommen. Zwar hat das Team mit Abstand die meisten Kopfballtore in Spanien erzielt, aber die Gelegenheiten dafür werden nun »auf dem Boden« herausgespielt. Bielsa hat der Mannschaft ein offensives Spielsystem verpasst, das auch auswärts praktiziert wird: Tempofußball, getragen von immenser Laufbereitschaft und Pressing. Dass Bielsa diesen Stilwandel in nur einer Spielzeit erfolgreich vollzogen hat, zeigt, dass er ein großer Trainer ist. Wenn es dieses Beweises noch bedurfte. Das Ganze funktioniert aber nur mit Absicherung, einem freien Mann in der zentralen Verteidigung. Bielsa gilt als Anhänger dieses von Louis van Gaal entworfenen Systems. »Das Modell anderer Mannschaften, das mir am besten gefällt, ist das der Ajax-Mannschaft von Louis van Gaal. Das ist nämlich eine Mannschaft mit der Flexibilität, ihre Linien an der Anforderung, die der Gegner an sie stellt, auszurichten. Außerdem interessiert mich, dass das Team ein charakteristisches und unabhängiges Offensivkonzept besitzt. Zweifelsohne ist dieser Spielstil der Inbegriff meiner Vorstellungen«, hat er einmal gesagt.
Athletic Bilbao unter Bielsa spielt neben Barça den attraktivsten Fußball in Spanien. Manchester United und Schalke 04, die von Athletic in beeindruckender Weise aus dem Wettbewerb geworfen und dabei nach allen Regeln der Fußballkunst zerlegt wurden, wissen das am besten. Gerade das Achterfinalhinspiel in Old Trafford war wohl das Beste, was eine Athletic-Mannschaft seit Jahrzehnten gespielt hat. Manchester war mit dem 2:3 noch gut bedient. »In ganz Europa habe ich keine Elf gesehen, die so spielt«, sagte Uniteds Trainer Alex Ferguson danach. »Es ist Schönheit.«
In seiner Herkunftsstadt Rosario wird Bielsa bis heute verehrt, seit er die Newell’s Old Boys, den Verein, wo er alle Jugendmannschaften durchlaufen und sein Profidebüt gegeben hatte, 1991 als Trainer zur Meisterschaft führte. Vor drei Jahren hat der Club, für den übrigens auch Lionel Messi in seiner Jugend spielte, sein Stadion nach Marcelo Bielsa umbenannt. »Wir hätten ihn lieber hier, aber er geht zu Athletic, wir wünschen ihm alles Gute«, sagte ein Fan in Rosario, als Bielsas Engagement in Bilbao bekannt wurde. »Ich bin ihm so dankbar, dass ich, als er Chiles Nationalmannschaft gecoacht hat, wollte, dass Chile gewinnt, und das, wo ich die Chilenen nicht ausstehen kann!«
Es ist viel geschrieben worden über diesen außergewöhnlichen Trainer. Ezequiel Fernández Moore meint, Bielsa sei vom Geist des Amateurs beseelt, im positiven Sinne, er liebt einfach, was er tut. Der 56jährige, auch »El Loco«, der Verrückte, genannt, gilt als detailversessen, obsessiv, fast schon zwanghaft. In seiner Zeit bei Espanyol Barcelona hat er angeblich 27 verschiedene Einwurf-Varianten einstudieren lassen. »Er lebt für den Fußball«, sagt sein Stürmer Fernando Llorente. Die Frage ist: Ist er wirklich so verrückt, wie sein Ruf es behauptet? »Nein«, sagt Iker Muniain. »Er ist verrückter.«
Pressekonferenzen können bei Marcelo Bielsa schon mal sehr lange dauern, da er alle Fragen beantwortet, den Blick zumeist nach unten gerichtet, Augenkontakt vermeidend. Es gibt die Anekdote, dass er sich von Zoo-Besuchen inspirieren lasse. Und es heißt, vor der Weltmeisterschaft 2002 in Japan und Südkorea hätte Bielsa per Schiff einen Container mit mehreren Tausend Videokassetten nach Asien bringen lassen. Sie dienten als Anschauungsmaterial; angeblich besitzt er eine der größten Videosammlungen mit über 7 000 Fußballspielen. Als Bielsa in Bilbao ankam, hatte er alle 38 Ligaspiele der Mannschaft in der Vorsaison gesehen und alle Details in farbigen Tabellenkalkulationen zusammengefasst.
»Ein Mann mit neuen Ideen ist so lange verrückt, bis er Erfolg hat«, hat Bielsa einmal gesagt. Athletic gewann unter ihm von den ersten fünf Spielen der Saison keines, der schlechteste Saisonstart seit 32 Jahren. Da wurde bereits Kritik laut. Dann folgte der Derbysieg bei Real San Sebastian, und heute steht man in zwei Pokalfinals und blickt auf die erfolgreichste Spielzeit seit fast drei Jahrzehnten, die am 9. Mai mit dem ersten europäischen Titel der 114jährigen Vereinsgeschichte gekrönt werden könnte.