Fürchtet, die globalen Aufstände verlaufen im Nichts

Das Mittel gegen Depressionen

Da die Aufstände keine reformistischen Ziele erreichen können und eine grundlegende Umwälzung der Gesellschaft abwegig erscheint, verlaufen sie im Sande.

Alle reden von Aufstand, keiner von Revolution. Meist handelt es sich im Grunde nur um eine gewisse Unruhe. Diese Depotenzierung spiegelt den Charakter aller Aufstände, die in einer Zeit stattfinden, in der es keine reformistischen Ziele zu erreichen gibt und andererseits eine grund­legende Umgestaltung des gesellschaftlichen Gattungszusammenhangs aus verschiedenen Gründen abwegig erscheint. Dementsprechend verlaufen diese Erhebungen alle im Nichts, wirken aber als großartiges Antidepressivum. Als im August 2011 viele Geschäfte Großbritanniens nachts geöffnet wurden, sprachen viele von den schönsten Tagen ihres Lebens, und selten fehlt die Behauptung, nichts werde jemals wieder so sein wie zuvor. Aber je extensiver der Rausch und der Bruch mit der Normalität, desto schlimmer der Kater, sei dieser durch den wiederkehrenden Alltag oder die Repression bewirkt.
Kommt es im Rahmen von Aufständen zu ­politischen Umbrüchen, wie in Ägypten oder Tunesien, so wird manchmal doch von Revolution gesprochen. Aber man sollte zwischen den Erhebungen selbst und den Veränderungen auf staat­licher Ebene deutlich unterscheiden. Die Regierungsänderungen wurden schließlich von den Staatsorganen herbeigeführt, und eine der ersten Maßnahmen etwa des ägyptischen Militärs war es, die Leute wieder zur Arbeit aufzurufen und anzukündigen, die Revolte, wenn nötig, repressiv zu beenden. Vielleicht gibt es dort viele erfreuliche Erscheinungen, und sei es nur, dass die Bevölkerung überhaupt politisch diskutiert, die Geschlechterfrage gestellt wird und eine rudimentäre Selbstverwaltung ausgeübt wird. Aber das sind untergründige, oft marginale Veränderungen und eben nicht unmittelbar die Staatsbewegung, die von anderen Mächten abhängt.
Bevor man einen Zusammenhang zwischen unterschiedlichen Erhebungen sucht, muss man sie voneinander abgrenzen. Die Vorstadtunruhen in Frankreich 2005 unterscheiden sich stark von den britischen Unruhen 2011: Letztere fanden in den Innenstädten statt, und es wurde wirklich viel geplündert, während die Vorstädte Frankreichs sich anscheinend nur für Zerstörung und Angriffe auf die Polizei eignen. Vergleicht man beide Ereignisse mit dem Dezemberaufstand 2008 in Griechenland, springt ins Auge, dass dieser bei aller ähnlichen Zerstörung seinen Ausgang von der Anarchistenszene nahm, die dem ganzen, ihr weitgehend entgleitenden Geschehen immerhin eine abstrakte Idee aufdrückte, während die Akteure in Frankreich und England über keinerlei verbindende politische Idee verfügten. Kontrastiert man derlei offene Straßenkämpfe mit den – abgesehen von Maßnahmen zur Selbstverteidigung – weitgehend friedlichen Platzbesetzungen, die vom Tahrir-Platz ausgehend auch Spanien, Griechenland und die USA ergriffen, minimieren sich die genannten Unterschiede, und wir haben den Gegensatz von Wolfsrudel und Schafherde. Trotzdem erweist sich auch dieser Gegensatz als trügerisch, da beide Seiten keine Forderungen stellen, während klassische Studentenbewegungen wie in Kanada 2012 oder Arbeiterkämpfe wie in Ägypten sich wenigstens formell auf irgendwelche unmittelbaren Forderungen festlegen. Aber ­diese reformistischen Forderungen haben derzeit keine Aussicht auf Erfolg. Bei den ritualisierten Generalstreiktagen in Portugal, Spanien oder Griechenland verlieren sie sich daher in der allgemeinen Forderung nach Beendigung der Sparpolitik und damit in allgemeinem Genörgel oder in eruptiven Gewaltausbrüchen. Dadurch zerfallen auch diese Bewegungen in hoffnungslose Wut und fruchtloses Palaver.

Direkt hängen die Aufstände selten zusammen, wenn man von gelegentlichen politischen Solidaritätserklärungen absieht. Genau genommen gibt es zwischen den Protestierenden selbst kaum einen Zusammenhang. Die vielgepriesene direkte Demokratie auf den besetzten Plätzen hat nirgends zu einer lebendigen oder auch nur schriftlichen Diskussion über Ziele und Strategie geführt. Das gibt es höchstens in kleineren Zirkeln. Aber es gibt indirekte Zusammenhänge, und so werden die friedlichen Aspekte der ägyptischen Revolte – die Arbeiter und die Ultras durften in unseren Medien kaum erscheinen – die Welle der folgenden Platzbesetzungen angeregt haben. Die französischen Unruhen in den Banlieues gaben wahrscheinlich der Anti-CPE-Bewegung 2006 ihre Kraft. Diese ist zwar nicht so hart gegen die Polizei vorgegangen und zerstörte weniger, aber sie ging immerhin dazu über, Gebäude, Straßen und Bahnhöfe zu blockieren. Die kurzfristige Party wiederum, die Ende 2010 in einer Londoner Parteizentrale stattfinden durfte, nachdem diese von einigen Troublemakern aufgebrochen worden war, inspirierte die folgende Studentenbewegung und diese vielleicht die Plünderer im Folgejahr. Aber das sind oft nicht bewusste Bezüge, vielleicht eher ein Resonanzverhalten ansonsten getrennter Bereiche. Es kommt aber darauf an, eine Einheit solcher Phänomene zu entwickeln, zunächst indem man diese wenigstens begrifflich in Bezug zueinander setzt oder auf Überschneidungen verschiedener Protestgruppen hinweist. Dabei ist die erste Forderung, dass die Berichterstattung schneller und besser wird, da tatsächlich viel Desinformation betrieben wird und man kaum auch nur die Akteure richtig benannt bekommt. Wenn Diskussionen über das Geschehen, die Strategie oder die Ziele von Bewegungen entstehen, sollte man deren Übersetzung und Verbreitung organisieren. Es müssen natürlich mehr solche Texte geschrieben werden. Dabei ist zu beachten, dass dieselben natürlich hauptsächlich von Politprofis verfasst werden und sich darin alle zu überwindenden Wundmale der überlebten Szenen und Sekten der Vergangenheit finden.
Es versteht sich, dass schon der Versuch, die Proteste auf einen Begriff zu bringen, von starken Ideen getrieben sein muss, und wahrscheinlich sind es im weiteren Sinne immer noch die Ideen von Marx und Kropotkin, die dazu am besten taugen. Nur durch eine solche Idee kann man den an sich inhaltsleeren Aufstandsbegriff seiner Beliebigkeit entheben, indem sich Momente der Unruhe als diesen Ideen förderlich zeigen und andere ihr entgegenwirkend. Aber Ideen, die die Massen ergreifen könnten, brauchen umgekehrt erst ihre eigene Entwicklung, stehen der Gesellschaft nicht fertig gegenüber. Vielen Kommunistinnen und Kommunisten fehlt es zwar nicht an einer allgemeinen Idee, und tatsächlich versteht man sich so ungefähr, wenn man Revolution sagt, aber meistens langweilen sie sich bei ihren eigenen Agitationsversuchen oder Debatten selbst. Sie sind dadurch natürlich auch für alle anderen uninteressant.

Schließlich ist die freie Aneignung und Umformung der Produktionsmittel eine äußerst praktische Angelegenheit, und so ist gegenwärtig der Wunsch nach einer umfassenderen Organisation sehr verbreitet. Alle wollen sich etwas Größerem, bereits Bestehenden anschließen. Aber es führt kein Weg daran vorbei, sich individuell zu organisieren, sprich allerlei kleinere, oft temporäre Föderationen einzugehen, die im weitesten Sinne auf gemeinsamer Arbeit beruhen. Schaffen es Individuen oder Zirkel, frei zu kooperieren, so ist das Resultat dieser Mikrobewegung vielleicht eine mehr oder weniger formelle Organisation, der man sich dann leichter anschließen kann. Aber auch dann bedeutet das immer eigenen Fleiß und Kreativität. Informelle und punktuelle ­Zusammenarbeit, etwa bei einer spontanen Demonstration oder der Verbreitung einer Flugschrift, hat dabei den Vorteil, dass sie nicht alle Zeit schluckt und deutlich mehr Personen zwanglos teilnehmen könnten, während die formellen Organisationen immer dazu tendieren, aus Kampagnenheinzen und passiven, vielleicht ausführenden Mitgliedern zu bestehen und zudem inhaltlich wenig Dynamik zu besitzen.
Bei allem darf man sich nicht von der Diktatur der Zahl abhängig zu machen, man sollte jede Wahrscheinlichkeitsrechnung vergessen. Die autoritären Strömungen haben im Ernstfall sicher mehr Aussicht auf Erfolg, und es gibt eine gehörige Neigung der von Wirtschaftskrisen gebeutelten Gesellschaften in Richtung Diktatur. Aber anfangs wurde noch jede radikale Idee nur von einer Minderheit vertreten, und selbst die beliebten Spaltungen dieser Minderheiten können der Sache dienlich sein, wenn sie wenigstens wirkliche, auch außerhalb der sich spaltenden Kollektive bestehende Widersprüche spiegeln. Besser allemal als diese komischen Bündnisse, die sich bei aller inneren Perspektivlosigkeit auf einen vermeintlichen Feind konzentrieren: einzelne Gesetze, das Sparprogramm, der Papst oder die Banken. Die mentale Randale wird jedenfalls zunächst von verhältnismäßig wenigen Individuen ausgehen, und man muss allen großen Koalitionen zumindest misstrauen. Die freie Assoziation ist schließlich nicht die abstrakte Zusammenfassung der Vereinzelten in Körperschaften oder deren Mobilisierung zu Massenaktionen, sondern vielmehr die selbstbewusste, fouriersche Aneignung des Lebens und dessen Reproduktion in bislang nur geahnten Formen.

Der Autor war an der Übersetzung einiger Texte aus den und über die gegenwärtigen Unruhen beteiligt: www.magazinredaktion.tk/etal.php