Das Buch »Adorno in Neapel« von Martin Mittelmaier

Nebensaison des Denkens

Martin Mittelmaier rekonstruiert in seiner Studie »Adorno in Neapel«, wie sich eine Sehnsuchtlandschaft in Theorie verwandelt.

Auch ich in Arkadien!« Schon Goethes Italienische Reise folgte vorgegebenen Spuren. Der Dichter machte eine Tour, deren Etappen bereits literarisch etabliert waren. Sein Vater hatte die Orte bereits besucht und dem Sohn die Erfahrungen der Italien-Fahrt in Aufzeichnungen überliefert. Denn zur Tradition der italienischen Bildungsreise gehörte, lange bevor Goethes Tagebuch zur Pflichtlektüre für die bürgerliche Nachwelt wurde, der Reisebericht. Darin sollten die viel besungenen Sehenswürdigkeiten nochmals gewürdigt, gleichzeitig aber auch Neues, bisher Unentdecktes festgehalten werden.
Mit der bürgerlichen Tradition vertraut, aber entschlossen, ihr zu entkommen, waren dagegen jene jungen Intellektuellen, die im Sommer 1925 am Golf von Neapel einen Rückzugsort fanden, an dem sie mit wenig Geld leben und ihre philosophischen Studien betreiben konnten. Alfred Sohn-Rethel entzog sich auf Capri der für ihn vorgesehenen Industriellenlaufbahn und widmete sich der Marx-Lektüre. Er traf dort auf Walter Benjamin, der an seiner Habilita­tionsschrift über den Ursprung des deutschen Trauerspiels arbeitete, sich dann aber von der sowjetischen Theaterregisseurin Asia Lacis ablenken ließ und wiederholt zu gemeinsamen Streifzügen durch Neapel aufbrach.
Als im September Siegfried Kracauer und Theodor Adorno (damals noch Wiesengrund) drei Wochen zu Besuch kamen, hatten Benjamin und Lacis inmitten der touristischen Sehnsuchtslandschaft ein eigenes »Denkbild« zu Neapel entworfen. Sie ließen sich nicht nur von der Architektur, dem Alltagsleben und der Sprache, sondern auch von dem porösen neapolitanischen Tuffstein zu theoretischen Betrachtungen hinreißen. Alle von der Moderne gezogenen Grenzen zwischen Öffentlichem und Privatem, Profanem und Sakralem, Geistigem und Körperlichem schienen durchlässig zu sein. Im Schatten des Vesuv offenbarte sich den Reisenden ein barockes Ensemble. Ernst Bloch, der die Gefahr sah, dass durch die Verklärung der Antike ein falsches Italien-Bild verbreitet wurde, gefiel die Interpretation des Porösen. Er machte sie sich in seinem Essay »Italien und die Porosität« zu eigen. Adorno berichtet dagegen in einem Brief an seinen Kompositionslehrer Alban Berg von einer »philosophischen Schlacht«, er deutet damit an, wie sehr die Freunde um das erkenntnis- und gesellschaftskritische Potential des neuen Begriffs gerungen haben.
Martin Mittelmeier, seit vielen Jahren Lektor für zeitgenössische Literatur, ist den Spuren der Capri-Reisenden gefolgt. In seiner Studie »Adorno in Neapel« versucht er nachzuweisen, wie die Eindrücke der Reise und die Impulse jenes fernen Disputs von Adorno in Philosophie übersetzt wurden. »Neapel, der scheinbare Nebeneingang in Adornos Theorie, führt in ihr Zentrum«, schreibt er. Die Reise werde »zum Quellcode einer der erfolgreichsten und folgenreichsten Theorien der bundesrepublikanischen Nachkriegsgeschichte«. Der kokette Ton, in dem sich Mittelmeier dafür rechtfertigt, ausgerechnet von einer biographischen Marginalie wie der Neapel-Reise auf das Werk Adornos zu schließen, verrät die Verliebtheit des Autors in seine Idee. Die Reise selbst findet bei Adorno nur in wenigen Briefzeilen und einem kurzen Text über den capresischen Fischer Antonio Spadaro, mit dem Monika Mann einige Jahre zusammenlebte, Erwähnung. Doch der Stolz auf den Einfall – der möglicherweise von einem Essay des neapolitanischen Schriftstellers Raffaele La Capria über Neapel als Geisteslandschaft stärker beinflusst ist, als Mittelmeier zugibt – macht ihn schließlich blind gegenüber den bemerkenswertesten Momenten seiner Rekonstruktion.
Zunächst zeigt Mittelmeier an zwei frühen musikalischen Essays die mutmaßliche Metamorphose von Landschaft in Text. Zwischen der wenige Wochen nach der Capri-Reise geschriebenen Kritik »Zur Uraufführung des ›Wozzek‹« von Berg bis zum 1928 entstandenen Essay »Schubert« hätten sich Adornos Reise­erlebnisse, nicht zuletzt aufgrund der in Frankfurt fortgesetzten Diskussion mit Benjamin, in »Strukturideale« einer neuartigen Form des Philosophierens verwandelt.
Bestand das von Sohn-Rethel im Kontext von Benjamins und Lacis’ Denkbild »Neapel« theoretisierte »Ideal des Kaputten« darin, verdinglichte, tote Materie so zu konfigurieren, dass daraus etwas anderes, Lebendiges entstehen konnte, so habe Adorno früh an der unmittelbaren Entfaltung des revolutionären Potentials des porösen Materials gezweifelt. Ihm sei aufgefallen, dass in Wirklichkeit eine erkenntnisstiftende Konstellation eher verhindert werde, indem die sinnentleerten, entfrem­deten Dinge durch das »Einlegen« neuen Sinns stillgestellt werden. Als Sinnbild der vereitelten Konstellation soll Adorno – so Mittelmeier – das Kunsthandwerk der Holzintarsien gedient haben, mit dem in Sorrent ein einträg­liches Souvenirgeschäft betrieben wurde. Auch bei einem Besuch in der Abteilung mit präparierten Seetieren in der Zoologischen Forschungsstation in Neapel soll Adorno das dialektische Bild einer zu ewigem Leben erstarrten Unterwasserwelt vor Augen gehabt haben. Zugleich aber soll ihm der Anblick des Oktopus und anderer Aquariumsbewohner zur »Entlarvung des Bürgers als naturwüchsiger Dämon« verholfen und ihn zur entscheidenden Selbstreflexion angeregt haben.
Ohne die »große Auseinandersetzung« Adornos und Benjamins um den Topos des dialektischen Bildes nochmals auszuführen, schlägt Mittelmeier eine Lösung der vielfach kommentierten Kontroverse vor: Die dialektischen Bilder müssten aufgesprengt werden, damit aus dem porösen Material überhaupt erst wieder Konstellationen geschaffen werden können. Vorbild für die »Sprengung« von Hohlräumen, die zur Gestaltung neuer Konstellationen genutzt werden können, soll der Schweizer Künstler Gilbert Clavel gewesen sein. Er hatte in der Bucht von Positano einen verfallenen Wachturm erworben, in die an ihn anschließende Felsenküste Löcher gesprengt und daraus ein begehbares Gesamtkunstwerk geschaffen. Adorno hatte den von Kracauer später als »Felsenwahn in Positano« beschriebenen Komplex an der Amalfi-Küste besichtigt und möglicherweise auch einer Sprengung beigewohnt.
Seite um Seite entzündet Mittelmeier ein Feuerwerk aus Assoziationen, in dem Adornos Urlaubserlebnisse, seine Lektüreerfahrungen und die Gespräche mit den Freunden helle Funken schlagen. Am Ende erscheint dem Autor die Konstellation als »Matrix« der Textproduktion Adornos, die »als Strukturierungsmaschinerie beliebig einsetzbar ist«. Mittelmeier reduziert den Frankfurter Philosophen zum bloßen »Darstellungskünstler«, seine Texte sind ihm »hochreizvolle Inszenierungen neapolitanischen Irrsinns«. Unversehens verfällt Mittelmeier in die Haltung des überheblichen Nordeuropäers, der überall dort nur »Irrsinn« erblickt, wo Adorno sich herausgefordert sah, die »unrationale Ordnung« Neapels zu begreifen.
Dass Benjamin in der »Erkenntniskritischen Vorrede« des Trauerspielbuchs die Darstellung zum wesentlichen Moment emphatischer Erkenntnis erklärt, gerät in Mittelmeiers Rekonstruktion in Vergessenheit. Er verfolgt die »Wunderwaffe« der Konstellation bis in Adornos Spätwerk, dabei blamiert sich nicht nur seine Rhetorik, er reflektiert auch nicht, dass die Struktur eins ist mit dem Erkenntnisanspruch, der in der »Negativen Dialektik« darauf zielt, »den Trug konstitutiver Subjektivität zu durchbrechen«. Dafür bedarf es nach Adorno »nicht eines Weniger, sondern eines Mehr an Subjekt«, denn wer dem Gegenstand der Reflexion gerecht werden will, »muss mehr, nicht weniger denken«.
Bereits auf Capri stimmten die Freunde überein, dass es darauf ankäme, sich in eine Verhaltensweise »produktiver Schwäche« einzuüben: Wer eine Konstellation schaffen will, muss sich den dialektischen Bildern in »konzentrierter Passivität« überlassen, gleichzeitig aber seiner selbst mächtig bleiben. Nur so kann man dem Einlegen scheinhaften Sinns widerstehen und das poröse Material neu anordnen. Anstatt Adorno vorzuwerfen, aus seinen »Minima Moralia« spreche kein »beschädigtes«, sondern ein »erstarktes« Subjekt, hätte Mittelmeier hervorheben können, was seine Rekonstruktion tatsächlich eindrücklich vorstellt, von Adorno aber nie philosophisch eingeholt wird: die konstitutive Relationalität des Subjekts. Es sind die Konstellation am Vesuv, die lebendige Erfahrung der Hafenstadt, die gemeinsame, deutende Annährung an die neapolitanische Landschaft und das wechselseitige Lesen, Gegenlesen und Umschreiben der verschiedenen von den Freunden verfassten Texte, die Adorno die Möglichkeit eröffnen, in Konstellationen zu denken und zu schreiben.
Als Einführung in Adornos Werk eignet sich Mittelmeiers Buch nicht. Auch in einer mutmaßlichen »Nebensaison« seines Denkens erklärt sich Adornos Philosophie nicht aus der strukturellen Materialität des Golfs von Neapel. Zu empfehlen ist das Buch dagegen jederzeit als origineller Reiseführer für zeitgenössische Italien-Reisende. An dazugehörigem Bildmaterial fehlt es dem Band nicht. Und so lohnt es sich, anstatt noch einmal mit Goethe und seinem Gefährten Tischbein den Vesuv zu besteigen, mit Adorno und seinen Freunden die neapolitanische Küstenlandschaft zu bereisen. Die poröse Struktur scheint auf den ersten Blick ihre emanzipative Kraft verloren zu haben. Wie von Adorno befürchtet, verfestigten sich eher Schreckensszenarien, die sich kulturindustriell vermarkten lassen. Doch Mittelmeiers Erinnerung an »Adorno in Neapel« kann als Einladung gelesen werden, nicht nur die uralte, postkartenschöne Sehnsuchtsvorstellung, sondern auch die populäre Darstellung des Mafia­pfuhls von »Gomorrha« zu sprengen und Süditalien endlich in einer veränderten Konstellation zu denken.

Martin Mittelmeier: Adorno in Neapel. Wie sich eine Sehnsuchtslandschaft in Philosophie verwandelt. Siedler-Verlag, Berlin 2013, 304 Seiten, 22,95 Euro