Hamburgs Szeneviertel als »Gefahrengebiete«

Übel und gefährlich

Die Polizei hat die Hamburger Szeneviertel zum Gefahrengebiet erklärt.

Wasserwerfer kamen ohne Vorwarnung zum Einsatz, Greiftrupps der Polizei schlugen sich mit Pfefferspray und Faustschlägen einen Weg durch die Menge. Am 21. Dezember wollten 10 000 Menschen in Hamburg für den Erhalt des sozialen Zentrums Rote Flora, ein Bleiberecht für Flüchtlinge und ein Wohnrecht für die Mieter der geräumten Esso-Häuser in einem genossenschaftlichen Neubau am gleichen Ort auf die Straße gehen. Es kam anders, die Demonstration wurde auf Befehl der Gesamteinsatzleiter Peter Born und Hartmut Dudde nach 30 Metern von Polizeieinheiten »aufgestoppt« und attackiert. Aus den vorderen Reihen der Demonstration schlug ihnen Gegenwehr entgegen, es wurden Steine geworfen.

Nach Angaben des »autonomen Ermittlungsausschusses« und von Sanitätern der Demonstration gab es über 500 verletzte Demonstranten, von denen viele ins Krankenhaus mussten. Dem Pressesprecher der Polizei zufolge gab es 117 verletzte Beamte, 16 mussten in Krankenhäusern behandelt wurden. Am Tag zuvor war die Davidwache auf der Reeperbahn attackiert worden, Fenster und Einsatzwagen wurden beschädigt. Es wurde berichtet, dass es am 28. Dezember erneut zu einem Angriff auf die Wache gekommen sei, ein Polizist soll dabei schwer verletzt worden sein. Innensenator Michael Neumann (SPD) sprach von »Chaoten aus der gesamten Bundesrepublik«, die massive Gewalt ausgeübt hätten, der innenpolitische Sprecher der Bürgerschaftsfraktion der CDU, Kai Voet van Vormizeele, von »bürgerkriegsähnlichen Attacken« auf die Polizei. »Vermummte brechen Beamten den Kiefer: Die Kriegserklärung«, lautete die Schlagzeile der Hamburger Morgenpost. Die Verbände der Hamburger Polizeigewerkschaften initiierten die Kampagne »Keine Gewalt gegen Polizisten«, die sogleich vom regierenden Bürgermeister Olaf Scholz (SPD) und seinem Innensenator unterstützt wurde.

Kaum Gehör fand der gewöhnlich gut informierte Anwalt Andreas Beuth, der häufig die Rote Flora vertreten hat. Sein Büro hatte eigene Recherchen zum angeblichen Überfall auf die Davidwache angestellt. Am 5. Januar bezweifelte er, dass an diesem Angriff wie behauptet 40 Vermummte beteiligt gewesen seien, und erklärte: »Es ist kein Beamter vor der Davidwache Ecke Reeperbahn/Davidstraße durch einen Stein oder anderen gefährlichen Gegenstand verletzt worden.« Beuth folgert: »Hinter der bewusst falschen Darstellung stehen augenscheinlich politische Interessen der Polizeiführung und ihrer Gewerkschaften wie zusätzliche Stellen, eine bessere Bezahlung der Polizei, eine ›Aufrüstung‹ der Polizei und aktuell die Einrichtung eines unbefristeten Gefahren­gebiets in einem nie dagewesenen Ausmaß.«
Einen Tag später musste der Sprecher der Polizei, Mirko Streiber, einräumen, dass der Beamte nicht wie in der früheren Darstellung der Polizeipressestelle behauptet bei dem vermeintlichen Angriff von 40 Vermummten auf die Davidwache unter Rufen wie »St. Pauli – Scheißbullen –- habt ihr immer noch nicht genug« mit einem Stein schwer am Kopf verletzt worden war, sondern bei einer Auseinandersetzung mit Kiezbesuchern, die nicht auf der Reeperbahn, sondern in der 200 Meter entfernten Hein-Hoyer-Straße stattgefunden hatte. Ermittelt werde nun gegen Unbekannt. Die vermeintliche Attacke auf die Davidwache hatte in Hamburg zu einer Medienkampagne geführt, es war von einer »neuen Qualität linksextremistischer Gewalt« die Rede.

Am 4. Januar wurden die Szeneviertel St. Pauli, Altona-Altstadt und -Nord sowie das Schanzenviertel von der Polizeiführung zum »Gefahrengebiet« erklärt. Diese Hamburger Besonderheit – seit 2005 darf die Polizeiführung Teile der Stadt ohne richterliche Anordnung zu »Gefahrengebieten« erklären – geht auf eine Initiative des Rechtspopulisten Ronald Schill zurück. Die Polizei darf dort Aufenthaltsverbote aussprechen und nach Belieben Personen und Taschenkontrollen vornehmen. Am Wochenende patrouillierten Hundertschaften durch die Viertel, nach Angaben der Polizei wurden 414 Personen überprüft, 83 erhielten ein Aufenthaltsverbot, neun Personen einen Platzverweis. Christiane Schneider, Abgeordnete der Linkspartei in der Hamburger Bürgerschaft, kritisierte: »Es gibt de facto keine Kontrolle der Polizei. In Sachen Gefahrengebiet entscheidet die Polizei, und nur sie.« Die in Hamburg allein regierende SPD hat damit kein Problem. »Wir unterstützen ausdrücklich, dass die Polizei den rechtlichen Rahmen konsequent ausschöpft, um neuen Übergriffen präventiv entgegenzuwirken«, sagte Arno Münster (SPD).
Das Hamburger Abendblatt titelte am 6. Januar »Geheimpapier: Polizei warnt vor weiteren Anschlägen in Hamburg« und erweckte den Eindruck, Hamburgs autonome Szene plane gezielte Anschläge auf Personen. Am selben Tag tagte auf Betreiben der Linkspartei und der Grünen der Innenausschuss der Hamburger Bürgerschaft, um das Vorgehen der Polizeiführung bei der Suspendierung des Demonstrationsrechts am 21. Dezember zu untersuchen. Schneider und die Abgeordnete Antje Möller (Grüne) waren bei der Zerschlagung der Demonstration selbst anwesend. Möller distanzierte sich von »Gewalt und Eskalation« auf Seiten der Demonstranten, kri­tisierte aber, die Polizeiführung habe das »Demonstrationsrecht für Tausende, die friedlich demonstrieren wollten«, ausgehebelt. Schneider wurde in Medienberichten fälschlicherweise unterstellt, in einem »schwarzen Block« die Parole »Haut ab, ihr Bullen!« gerufen zu haben. Auch Schneider warf der Polizei vor, das Demonstrationsrecht ausgehebelt zu haben: »Ich habe den Eindruck, dass es die politische Absicht war, die Demonstration nicht stattfinden zu lassen.«