Der Stand des NSU-Prozesses

Der Killer, der Cleaner und die Liese

Im Herbst könnten im NSU-Prozess die Urteile gefällt werden. Doch die Aufklärungslücken sind nach wie vor eklatant.

Seit Mai 2013 wird vor dem Oberlandesgericht München über die Mordserie des Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU) verhandelt. Während der beinahe 22 Monate ist das Gericht an 190 Verhandlungstagen zusammengetreten. Manche Nebenkläger gehen davon aus, dass die Urteile gegen die Hauptangeklagte Beate Zschäpe und die vier mitangeklagten mutmaßlichen Unterstützer des NSU noch in diesem Herbst gefällt werden könnten. So verweist der Berliner Rechtsanwalt Sebastian Scharmer darauf, dass große Abschnitte der Anklage inzwischen abgearbeitet seien. Es fehlten nur noch die Banküberfälle. Die Mordserie und die Sprengstoffanschläge hält er für überwiegend aufgeklärt.

Die Bundesanwaltschaft dagegen sieht sich immer noch mit einer großen Menge an Beweismitteln konfrontiert, deren Analyse noch viel Zeit erfordern dürfte. So müssten die Computerfestplatten der Angeklagten, auf denen Dokumente jeglicher Art lagern, die nach wie vor nicht ausgewertet sind, noch ausgiebig untersucht werden. Zudem könnte es weitere Aussagen von Angeklagten geben. Die Verteidiger von Holger Gerlach kündigten an, ihr Mandant werde möglicherweise noch mehr Wissen preisgeben. Die Anwälte von Beate Zschäpe und Ralf Wohlleben deuteten an, dass sie sich auf weitere Beweisanträge vorbereiteten.
Beobachter des Prozesses bemängeln die Aufklärungslücken bei zwei Morden des NSU. So etwa bei dem Anschlag auf den Besitzer eines Internetcafés in Kassel, genau zu jenem Zeitpunkt, als ein Beamter des Verfassungsschutzes in dem Laden anwesend war. Ebenfalls äußerst rätselhaft bleibt nach wie vor der Mord an der Polizistin Michèle Kiesewetter in Heilbronn. Ob die gebürtige Thüringerin ein Zufallsopfer war oder bewusst ausgewählt wurde, ist immer noch völlig unklar. Doch dass diese Fragen im Prozess noch geklärt werden, gilt als unwahrscheinlich. Im Fall Kiesewetter könnte möglicherweise der NSU-Untersuchungsausschuss in Stuttgart für ein gewisses Maß an Aufklärung sorgen. So stellte der Journalist Thumilan Selvakumaran am Montag vor dem Ausschuss die bisherigen Ermittlungs­ergebnisse vollständig in Frage, denn viel zu früh hätten sich die Ermittler auf die Theorie von zwei Tätern festgelegt. Außerdem könne er auf Phantombildern der Täter in Heilbronn keinerlei Ähnlichkeit mit den NSU-Mitgliedern Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt feststellen, so der Journalist. Er forderte den Ausschuss auf, die möglichen Verbindungen von Kiesewetter und ihrer Familie ins rechte Milieu noch einmal genauer zu untersuchen. Auch die früheren Obleute des NSU-Ausschusses im Bundestag, Clemens Binninger (CDU) und Eva Högl (SPD), bezweifeln, dass Kiesewetter und ihr Kollege Zufallsopfer des NSU waren, wie die Bundesanwaltschaft behauptet.
Bisher kommt die Arbeit des im November eingesetzten baden-württembergischen Untersuchungsausschusses nur langsam voran. Wesentliche Akten sind immer noch nicht in Stuttgart angekommen. So fehlen unter anderem die Unterlagen zum Komplex Kiesewetter vom Oberlandesgericht München. Ob dem Ausschuss auch die fast 1 000 Seiten mit Quellenberichten des Verfassungsschutzspitzels »Tarif« zugänglich gemacht werden, dessen Führungsakte nur wenige Tage nach dem Tod von Mundlos und Böhnhardt im Bundesamt für Verfassungschutz (BfV) vernichtet wurde, ist bislang unklar. Bei den Unterlagen, gefunden zwischen Oktober 2014 bis Mitte Januar 2015 in den Aktenbeständen des BfV, handelt es sich um 171 sogenannte Deckblattmeldungen. Sie fassen Informationen zusammen, die der V-Mann zwischen Januar 1995 und April 2001 aus der bundesweiten Neonaziszene geliefert hatte. »Tarif« alias Michael See gilt als eine wichtige Figur aus dem früheren Umfeld der Thüringer Terroristen.

Bisher hatte der Verfassungsschutz diese Unterlagen sowohl den Ermittlern, als auch dem bis August 2013 eingesetzten NSU-Untersuchungsausschuss des Bundestags vorenthalten. Dem Ausschuss wurden seinerzeit lediglich 39 Quellenberichte von »Tarif« vorgelegt. Auch die Bundesanwaltschaft hatte bis 2015 keinen vollständigen Zugriff auf die Akten. See hatte in einem Interview mit dem Spiegel unter anderem behauptet, dem Verfassungsschutz 1998 einen Hinweis auf das untergetauchte NSU-Trio gegeben zu haben. Er sei damals von einem Thüringer Neonazi angesprochen worden, ob er den dreien eine Zuflucht besorgen könne. Die Verfassungsschützer hätten aber seinerzeit seine Hilfe ausgeschlagen. In einer Vernehmung durch die Bundesanwaltschaft im März 2014 wiederholte See seine Behauptungen. Daraufhin wurden mehrere Beamte des BfV befragt, die mit der Führung des V-Mannes befasst waren. Der Präsident des BfV, Hans-Georg Maaßen, ließ noch mehrere Monate verstreichen, bevor er im Oktober 2014 die Anweisung gab, nach »Tarif«-Akten zu suchen. Mitte Februar wies Maaßen in einem Interview mit der Taz jegliche Verantwortung seines Amtes für den NSU-Skandal zurück. »Damals sind schwere Fehler gemacht worden«, gab er zu Protokoll, »aber ich verwahre mich dagegen, dies meiner Behörde zuzurechnen.« Zwar sei »der Zeitpunkt der Vernichtung der Akten im Bundesamt im November 2011 ein Fehler« gewesen. Aber die »vernichteten Akten hatten nichts mit dem NSU zu tun«, so Maaßen. Darüber hinaus bestritt er in dem Interview, dass das Bundesamt V-Leute im NSU-Umfeld geführt habe.
Wenig Beachtung fand eine Zeugenaussage Ende Januar vor dem Münchner Gericht. Eine Polizeibeamtin, die dafür zuständig war, eine im Brandschutt der ehemaligen Wohnung des NSU-Trios in der Zwickauer Frühlingsstraße gefundene DVD auszuwerten, berichtete von ihren Ergebnissen. Auf dem Datenträger waren unter anderem zwei Ordner mit den Namen »Killer« und »für die aktions-dvd«. In einem dieser Ordner befanden sich Adressen- und Namenslisten, »offensichtlich von möglichen Anschlagszielen«, wie die beiden Opferanwälte Alexander Hoffmann und Björn Elberling vermuten. Unter diesen waren etliche Kölner Einrichtungen, so auch eine Kindertagesstätte in der Keupstraße. Des Weiteren wurden Flüchtlingsheime, Waffengeschäfte und auch die Adresse eines Siegener Staatsanwalts aufgeführt.

In einem anderen Ordner fanden die Ermittler Hinweise auf eine Wette zwischen Zschäpe und Böhnhardt über geplante Gewichtsabnahmen. »200 Mal Videoclips schneiden« wurde unter anderem als Wetteinsatz eingetragen. Die beiden Nebenklägervertreter Hoffmann und Elberling sind davon überzeugt, dass es bei diesem Wett­einsatz um »die Bearbeitung des NSU-Bekennervideos« ging. Mundlos tritt bei der Wette mit dem Namen »Killer« an, Zschäpe als »Liese« und Böhnhardt als »Cleaner«. Dies ist nach Ansicht von Hoffmann und Elberling ein weiterer »Hinweis auf die Arbeitsteilung bei den Morden, bei denen Mundlos die gezielten Todesschüsse abgab, während Böhnhardt ›zur Sicherheit‹ schoss, um sicher zu gehen, und Spuren verhinderte, beispielsweise Patronenhülsen einsammelte«. Die auf der DVD gefundenen Daten machten »deutlich, dass auch Zschäpe als vollwertiges Mitglied der Gruppe in die grundlegenden Arbeiten« involviert war. Dies sei ein weiteres Indiz »für ihre mittäterschaftliche Rolle in der Gruppe«, so die Vertreter der Nebenkläger.