Ausprobiert. Teil 13 einer Serie: Public Viewing

Zickezacke, zickezacke, hoi hoi hoi!

»Ausprobiert«, eine Serie über Sportarten, die unsere Autorinnen und Autoren als Kinder geliebt oder gehasst haben – oder die sie schon lange im Fernsehen ­faszinieren. Teil 13: Public Viewing und Teambuilding – Nebenwirkungen des ­deutschen Mannschaftswahns, der aus der Kita direkt zum Reichsparteitag führt.

Spätestens seit dem deutschen »Sommermärchen« weiß der gemeine Fanmeilen-Besucher, dass es bei Mannschaftssportarten nicht nur um Leistung, Konkurrenz und Erfolg geht: »Dabeisein ist alles«, Mitmachen ist Integration und die Mehrheit hat immer recht. Auf dem »Möbel Kraft«-Parkplatz in Bad Segeberg verfolgten 2012 über 7 000 schwarz-rot-gold geschminkte »Public Viewer« das Fußball-EM-Halbfinale Deutschland gegen Italien, zum Finale ohne deutsche Beteiligung versammelten sich nur noch ein paar Hundert Sportsfreunde vor dem Möbelhaus. Die Massensportart »Fernsehgucken« war damit erst einmal wieder zur Samstagabend-Männersache degradiert.
Das war den meisten Aktiven auch arg recht, denn schließlich war man nicht bis 30 oder 40 in Stollentretern und Adiletten herumgelaufen, um sich den wohlverdienten Ruhestand am Stammtisch der »passiven Mitglieder« von quengelnden Kindern und hysterisch zur Mäßigung mahnenden Frauen vermiesen zu lassen. »Public Viewing« war wieder, was es immer schon war: am Spielfeldrand stehen, der bolzenden Jugend was Aufmunterndes zurufen (»Hau ihn um!«) und dem Schiedsrichter was Unflätiges. Ohne den familiären Klotz am Bein war die Gemeinschaft endlich wieder ganz.
Beigebracht wurde uns die zwanghafte Begeisterung für das Leiden anderer in den siebziger Jahren allerdings von eigens dafür bezahlten Damen bereits in der Grundschulzeit. Ich erinnere mich, dass ich eine bizarr ernsthafte Standpauke meiner Klassenlehrerin über mich ergehen lassen musste, als ich bei den »Bundesjugendspielen« keine Neigung zeigte, beim Hundertmeterlauf irgendeinen der verbissen um die Wette »wetzenden« Schulkameraden »anzufeuern« – als ob es mir wichtig sein müsse, dass dieser eine Junge und eben nicht irgendein anderer Sieger der sinnlosen Anstrengung würde. Die eindrückliche Ermahnung, zu tun, was alle anderen auch taten – die schrien im Gleichschritt zum Beispiel »Stefan, Stefan, Stefan!« –, erschien mir so unangemessen wie das geforderte Tun albern.
Meine Altersgenossen aber fühlten sich beim freiwillig-engagierten Mitwirken am gruppendynamischen Beliebtheitsterror offensichtlich so pudelwohl, wie Lumpen in Rudeln es eben tun. Inzwischen haben sie vermutlich ihren Kindern auch die Schwarmintelligenz vermittelt, mit der sie selbst – irgendwo zwischen Treckerführerschein und Tanzschule – sauber durch die Pubertät kamen und bis heute die dörfliche »Deutungsmacht« sicherstellen, und die geht so:
Du bist 13 oder 14 Jahre alt und alleine unterwegs, also erkennbar schutzlos. Auf dem Weg zur Schule lauert dir eine Horde aus Vier- bis 24jährigen auf. Die Bande schickt ihren Kleinsten vor, der schlägt dir ins Gesicht. Du musst dich entscheiden: Lässt du es dir gefallen, bist du für immer Opfer und bekommst Schläge und Demütigung nun alltäglich. Wehrst du dich aber und schlägst zurück, verprügeln dich die halbstarken großen Brüder des Kleinen ernsthaft – und werden dafür von der Erwachsenengemeinschaft gelobt, schließlich hast du dich an einem unschuldigen Kind vergriffen. Du giltst fortan als Sittenstrolch, alle zukünftigen Prügel sind nur gerecht.
Ja, die mit dem Vereinssport, glaubt man den Versprechungen des Sportfernsehens, verbundenen »Emotionen« waren immer schon eine wahre Freude. Heutzutage ist die Dorfgemeinschaft aber gründlich zivilisiert, also treffen sich alle einmal im Jahr – immer, wenn »Eurovision Song Contest« ist – zum Public Voting vor der Großbildleinwand beim Grillfest des Garbeker Fußballvereins, der mehr Mitglieder hat als das Dorf Einwohner. Da wackelt die Wand beim 100 Meter Luftlinie vom Sportplatz entfernt schlafenden Dorfpolizisten bis drei oder vier Uhr morgens. Der darf als staatliche Institution aber nicht einschreiten – im Sportverein macht man das seit jeher wie im Islam und regelt die Dinge unter sich, und wenn das nicht reicht, müssen die Streithähne eben beim Frühschoppen der Freiwilligen Feuerwehr eine Mediation machen.
Der DJ ist ab kurz vor Mitternacht, wenn der ESC zu Ende ist, zuverlässig noch besoffener als sein Publikum und grölt in die dann mit Megadezibel abgespielte Musikware aus den frühen Achtzigern einen Countdown hinein, nach dem es »hier in Garbek« sei oder »jaaa, jetzt wieder hier in Garbek« und jedenfalls schon »drei, zwo, eins, null, Garbek«. Außerdem brüllt er verzweifelte Gebete des Inhaltes, es würde schon gar nicht mehr regnen in Garbek oder bestimmt bald aufhören mit dem Wolkenbruch. Als das nicht hilft, greift er zu den Hits, die alle noch vom Schulhof her kennen: »Zickezacke, zickezacke!« schreit der Coach seinen Partygästen zu. »Hoi hoi hoi!« antwortet das Team.
Einpeitscher und Vereinsgäste haben aber auch zwei modernere Lieblingsmusikstücke, die dann den Rest der Nacht pausenlos gespielt werden. Im ersten geht es um eine Frau namens Bettina, die »ihre Brüste einpacken« soll – und dann kommt, als rustikaler Jahreshöhepunkt, »Deutz-Fahr«. Es handelt sich hierbei um den Soundtrack eines Marketing-Videos der deutschen Firma mit den grünen Treckern. Und dieses von der bekannten Künstlerin Tina York vorgetragene Glaubensbekenntnis der Garbeker, die sich damit eindeutig von irgendwelchen roten oder gelben Ami-Zugmaschinen (»Case«, »New Holland«, »International Harvester« usw.) distanzieren und also für den in der Lokalpresse vermeldeten, eventuell hier geplanten rot-gelben Treckerklau (siehe Jungle World 29/15, »Treckerskandal«) ein konfessionssicheres Alibi besitzen, geht so:
»Sechs Uhr früh, die Erde bebt, weil dir danach ist,/Denn du hast die Kraft, die du brauchst./Freie Sicht zum Horizont, einmal um dich ’rum,/Und der Nebel steigt lang-
sam auf./Wenn Du auf die Scholle triffst, spürst Du:/Es ist wieder da, das Gefühl: Ich fahr’ Deutz-Fahr!/Unverwechselbar: Deutz-Fahr, Deutz-Fahr./Starke Leistung, ist doch klar:
Wir fahr’n Deutz-Fahr!
Grüne Felder weit und breit, du liegst gut in der Zeit,/Denn du hast genau das, was du brauchst./Zuverlässig jeden Tag, du kannst fest darauf vertrau’n,/Genau wie weltweit Hunderttausende auch.
Kostengünstig, leistungsstark, lückenlos ist das Programm./Beste Qualität, die man spürt: Das Gefühl macht einfach an./Zuverlässig jahrelang, sowas nennt man »zukunftsorientiert«./Und der Sound in deinem Ohr/Ist der Deutz-Fahr-Motor./Bringt dich schattenlos durchs Bild,/Deutz dreht die Welt: Deutz-Fahr, Deutz-Fahr./Starke Leistung, ist doch klar: Wir fahr’n Deutz-Fahr!/Deutz-Fahr, Deutz-Fahr, Agrotron, Du bist mein Star,/Ganz klar: Deutz-Fahr!«
Auf der Großbildleinwand sieht man dazu das Video. Die Mucke ist mit Mitschnitten aus einem Videospiel von Deutz-Fahr hinterlegt, so dass man die Ernterekorde dörflicher Fahrsimulator-Gamer bewundern kann. Ob die allerdings nach durchgezockter Nacht und mit dem Restalkohol von Bettinas Fahr-Motor dann morgens um sechs schattenlos auf den Acker kommen, bis Scholle und Brüste beben, dürfte eher fraglich sein. Das ist aber irgendwie auch egal, denn die Jugend setzt sowieso eher auf Fußball, heiratet und erbt im Hintergarten, während die Feldbearbeitung von den Angestellten des 3 000-Hektar-Gutes Wensin an der Bundesstraße erledigt wird.
Von dort aus ist man in zehn Minuten beim Aldi in Segeberg, das wird gerne genutzt. Biegt man beim Gut jedoch falsch ab, landet man schnell in Puttgarden an der Fähre nach Dänemark; da will aber keiner hin. Ist nämlich nicht gerade Grillfest in Garbek, kann man in einer Scheune auf dem Gut nach Voranmeldung an einigen Samstagen Schnitzel all you can eat für 30 Euro essen oder Mottopartys feiern, also zum Beispiel Ü-40 oder Mittelalter, oft sind auch Hochzeitsmessen. Da der Erntebetrieb nicht beeinträchtigt werden darf, ist die Parkplatzsituation etwas prekär. Die Fahrzeuge der angereisten Pärchen stehen dann kilometerlang an der Straße zwischen Wensin und Garbek und bekräftigen so die Identität der Ortsteile wie die Scheidung die Ehe, aber das wissen die jungen Paare natürlich noch nicht.
Ein dem Königreich untreu gewordener Däne, der hier die Jagdpacht hat, behauptete mir gegenüber sogar einmal, die ganze Landschaft sei »identisch, bis hoch nach Aalborg«, aber dem glaube ich kein Wort. Der Verräter hatte vorher schon unbefugt auf mich und meine damalige Freundin geschossen, als wir friedlich auf dem bronzezeitlichen Grabhügel unseren Picknickrucksack auspackten und ein paar vernünftige Drinks nahmen. Neben der allgemeinen Identität begründete er dies – mitten in der Schonzeit, der Mann hat Nerven! – damit, er habe »nur seine Waffe kontrollieren« wollen.
Außerhalb der Sippen und Horden, ohne Fußballgemeinschaft und Feuerwehrregime, bleibt man offenbar auch in Ostholstein schutzlos. Aus gutem Grund führt von hier nur ein sinnvoller Weg weg, zu Margarethe ins dänische Königreich, wo keine deutschtümelnden Förster ungestraft auf Touristen schießen und betrunkene Diskjockeys Fußballspielern das Wetter erläutern müssen.