Pflegen, bis der Arzt kommt
Langsam bewegt sich der Demonstrationszug durch die Innenstadt. Transparente, Fahnen und vor allem zahlreiche Menschen in weißer Kleidung sind zu sehen. Viele von ihnen sind zum ersten Mal auf einer Demonstration. Etwa 400 Krankenhausbeschäftigte aus ganz Ostbayern sind nach Regensburg gekommen, um unter dem Motto »Mehr von uns ist besser für alle« für bessere Arbeitsbedingungen und mehr Personal auf die Straße zu gehen.
Nicht nur in Regensburg, sondern in ganz Bayern fanden an einem Wochenende Mitte Juni Demonstrationen statt. Sie waren Teil einer bundesweiten Kampagne der Gewerkschaft Verdi für eine gesetzliche Personalbemessungsgrenze und eine Entlastung der Beschäftigten in Krankenhäusern. Deren Arbeitsbelastung hat in den vergangenen Jahren vor allem wegen der angespannten Personalsituation enorm zugenommen. Während die Aufgaben wuchsen, wurde in vielen Krankenhäusern Personal abgebaut. So stieg die »Fallzahl«, d. h. die Zahl der Patienten, seit 1995 um knapp zwölf Prozent, die Zahl der Pflegekräfte hat jedoch um 13 Prozent abgenommen. Hinzu kommt, dass die Pflege der Patienten intensiver geworden ist, was unter anderem an der steigenden Lebenserwartung liegt. Betroffen von der zunehmenden Arbeitsbelastung in der Pflege sind hauptsächlich Frauen. Die Gesundheitsdienstberufe sind mit 84 Prozent Frauenanteil die Branche mit dem bei weitem höchsten Anteil weiblicher Beschäftigter. Insgesamt fehlen Verdi zufolge 162 000 Vollzeitstellen in Krankenhäusern, alleine 70 000 davon in der Pflege.
»Der Druck muss raus«, heißt es in einem Aufruf der Gewerkschaft. Die Arbeitsbelastung in den Krankenhäusern sei unerträglich, die Beschäftigten versorgten mit dem gleichen oder sogar weniger Personal immer mehr und immer schwerere Fälle. »Das geht so nicht weiter«, so Verdi. Die Folgen des Personalmangels seien gravierend. Viele Beschäftigte gäben nach ein paar Jahren den Beruf auf oder reduzierten ihre Arbeitszeit. Pausen könnten nur selten genommen werden, kurzfristige Wechsel der Arbeitszeiten gehörten zum Alltag. Viele Beschäftige seien emotional erschöpft, die psychischen Erkrankungen nähmen zu.
Lange Zeit galt es als äußerst schwierig, Beschäftigte im Pflegebereich für ihre Interessen zu mobilisieren. Insbesondere Arbeitsniederlegungen hielten auch viele Gewerkschafter für nicht durchführbar. Häufig war von einem »Helfersyndrom« die Rede, das die Betroffenen daran hindere, ihre Interessen durchzusetzen. Anders als in einer Fabrik stehen in Krankenhäusern eben nicht die Fließbänder still, sondern es sind die Patienten, die die Auswirkungen eines Streiks unmittelbar zu spüren bekommen, weil ihre Versorgung nur noch eingeschränkt stattfindet.
Diese Zurückhaltung in Arbeitskämpfen hat sich jedoch gewandelt. Die Entlastungskampagne der Gewerkschaft wird von einer breiten Bewegung getragen, die zunehmend auch auf Arbeitskämpfe zurückgreift, um ihre Forderungen durchzusetzen. Bereits im Frühjahr legten die Beschäftigten in mehreren Kliniken im Saarland kurzzeitig die Arbeit nieder. Durch Aktionen und öffentliche Kundgebungen gelang es ihnen, die Situation in der Pflege auch zum Thema des Landtagswahlkampfes zu machen. Mit mehreren Krankenhausunternehmen im Saarland befindet sich Verdi nun in Gesprächen über einen sogenannten Tarifvertrag »Entlastung«. Zur Durchsetzung ihrer Forderungen schließt die Gewerkschaft weitere Streiks nicht aus. Auch in zahlreichen anderen Bundesländern fanden Aktionskonferenzen statt, wurden Komitees gebildet sowie Kundgebungen und Demonstrationen organisiert.
Ihren Ausgangspunkt nahmen die Kämpfe um bessere Arbeitsbedingungen in der Pflege in der Berliner Universitätsklink Charité. Bereits 2011 streikten die dort Beschäftigten erfolgreich für mehr Lohn. Bereits damals spielte die gestiegene Arbeitsbelastung eine große Rolle. Zwar wurde durch den Arbeitskampf eine deutlich höhere Bezahlung erreicht, doch die Probleme durch zu wenig Personal blieben. So begann die dortige Verdi-Betriebsgruppe bereits kurz nach dem Abschluss der Verhandlungen den Kampf um eine tarifliche Regelung der Mindestbesetzung auf den Stationen. Zunächst versuchten die Gewerkschafterinnen mit Kundgebungen, Unterschriftensammlungen und medienwirksamen Protestaktionen auf ihr Anliegen aufmerksam zu machen.
Für den Vorstand der Charité war die Tarifforderung nach mehr Personal jedoch ein verfassungswidriger »Eingriff in die unternehmerische Freiheit«. Er weigerte sich, Verhandlungen zu diesem Thema zu führen. Streiks für eine Mindestbemessung beim Personal hielt der Vorstand für rechtswidrig. Trotz der drohenden juristischen Auseinandersetzung bereiteten die Beschäftigten sich auf Arbeitsniederlegungen vor. Dazu mussten sie sich jedoch zunächst in ihrer Gewerkschaft durchsetzen, denn auch bei Verdi war die Frage umstritten, ob eine personelle Mindestbesetzung tariffähig ist. Auch wenn eine weitere Zuspitzung der Auseinandersetzung sich dadurch zunächst verzögerte, kam die Gewerkschaft schließlich zu dem Schluss, dass die Forderung der Beschäftigten juristisch »zulässig und streikfähig« sei, und kündigte an, dies nötigenfalls auch gerichtlich durchzusetzen. Nach Warnstreiks mit großer Beteiligung traten die Beschäftigten im Juni 2015 in einen zweiwöchigen Streik. 20 Stationen des Klinikums waren komplett geschlossen. 1 200 der 3 000 Betten konnten nicht belegt werden. Vor Gericht scheiterte der Charité-Vorstand mit seinem Versuch, den Ausstand für rechtswidrig zu erklären. »Unternehmerische Freiheit hört dort auf, wo der Gesundheitsschutz für die Beschäftigten anfängt«, urteilte das Arbeitsgericht Berlin. Das Klinikum musste schließlich einlenken und mit der Gewerkschaft in Verhandlungen für einen Tarifvertrag »Entlastung« treten. Nach monatelangen Gesprächen einigte man sich schließlich im Frühjahr 2016.
Das mit 14 000 Beschäftigten größte Universitätsklinikum in Deutschland war das erste, bei dem für bestimmte Stationen Mindestbesetzungen vorgeschrieben wurden. Nebenbei wurde auch eine Erweiterung des Streikrechts erreicht, die für künftige Auseinandersetzungen wegweisend sein könnte. Nicht nur der Tarifabschluss hat für die bundesweite Kampagne zur Entlastung des Krankenhauspersonals Vorbildcharakter, sondern auch die Organisierung der Betroffenen während des Konflikts. Statt auf Stellvertreterpolitik setzte Verdi auf eine größtmögliche Einbindung der Beschäftigten in sämtliche Diskussions- und Entscheidungsprozesse.
Bei ihrer bundesweiten Kampagne will die Gewerkschaft nun die Erfahrungen aus der Auseinandersetzung an der Berliner Charité nutzen. Der politische Druck angesichts der anstehenden Bundestagswahl soll erhöht werden. Das Ziel ist die Durchsetzung gesetzlicher Personalbemessungsgrenzen. Als ersten Schritt verlangt die Gewerkschaft, dass keine Schicht mehr von einer einzelnen Pflegekraft abgedeckt werden darf, und fordert die umgehende Schaffung von 20 000 Vollzeitstellen. Auf betrieblicher Ebene setzt die Vereinigung auf Dienst nach Vorschrift. Statt Überstunden und ausgefallenen Pausen soll strikt nach den Arbeitsschutzgesetzen und den arbeitsvertraglichen Verpflichtungen gearbeitet werden. »Wir lassen uns keine Schuldgefühle mehr machen. Wir geben die Verantwortung für eine gute und sichere Versorgung an die Arbeitgeber zurück und setzen Grenzen«, heißt es in einer Stellungnahme von Verdi. Beschäftigte in mehr als 100 Kliniken beteiligen sich nach Gewerkschaftsangaben bereits an diesem Vorgehen. Außerdem will die Gewerkschaft dem Beispiel der Tarifauseinandersetzung an der Charité folgend die Personalbemessung zum Gegenstand tarifvertraglicher Verhandlungen machen. Zunächst soll ein Prozent der Kliniken zu Verhandlungen über einen Tarifvertrag »Entlastung« aufgefordert werden, um dann an immer mehr Krankenhäusern eine solche Vereinbarung zu erzielen.
Bei der Kundgebung in Regensburg zeigten viele Passanten ihre Unterstützung für die Forderungen der Beschäftigten in der Pflege, indem sie sich dem Protestzug anschlossen. Immerhin haben sie als potentielle Patienten ebenfalls ein Interesse an einer fachgerechten und guten Versorgung. Es ist unklar, ob dieses Wohlwollen auch anhält, wenn aus den bunten Demonstrationen, die den Klinikalltag nicht beeinträchtigen, harte Arbeitskämpfe mit spürbaren Konsequenzen werden.