Nicht wie Stalin
Die Benachrichtigungen auf meinem Telefon blinken wieder unnachgiebig. »Was ist denn jetzt los?« denke ich und sehe, dass ein mir Unbekannter schrecklich empört ist, weil er irgendwas von mir gelesen hat. Meistens bezieht sich solche Empörung auf bissige Tweets von mir. Diesmal ist der Anlass, dass ich am Männerwahlrecht gezweifelt habe, weil die AfD vor allem von Männern gewählt wird. Der Empörte vergleicht mich mit Cersei Lannister aus der allseits beliebten Fernsehserie »Game of Thrones« und sagt, ich sei genauso herzlos, machtgeil und berechnend. Seitdem versuche ich jedoch vor allem herauszufinden, wieso Leute auf die Idee kommen, dass ich Sex mit meinem Bruder haben will. Aber nun gut. Menschen denken seltsame Sachen über Leute, die sie aus dem Internet kennen.
Oft denken Männer zum Beispiel, dass ich sie hasse. Also, dass ich Männer an sich hasse. Sicherlich haben bestimmte Männer meinen Hass schon erleben dürfen, aber so allgemein ist das ja Unsinn. Denn ich hasse den Mann an sich so wenig, wie ich Deutschland hasse. Mir fehlen da völlig die Gefühle. Klar, manchmal drängt sich der Gedanke auf, dass Männer sehr irrationale Wesen und wenig vernunftbegabt sind. Sie sind oft feige, sie lügen schnell und effektiv, flüchten vor emotionalen Auseinandersetzungen und bleiben viel zu oft in einem unerträglichen Status des stummen Leids. »Das sind die ganzen Jungs, die dann mit Angststörungen bei mir sitzen«, hat eine befreundete Psychologin zu mir gesagt.
Mit diesen Gedanken fahre ich zum sowjetischen Ehrenmal in Berlin-Treptow. Ich bin verabredet mit einem alten Freund. Wir haben lange nicht miteinander geredet. Wir waren sehr wütend aufeinander. Und enttäuscht. Wahnsinnig enttäuscht. Ich schlendere auf den Eingang des überdimensionierten Tors an der Puschkinallee zu und da steht er. Wir lieben diesen Ort, haben wir immer, denn wir sind beide der Roten Armee sehr dankbar, auch wenn Stalin, nun ja, so überdimensional brutal war, wie dieses Denkmal pompös ist. Es dauert nicht lange und wir fangen an zu lachen. Über die Streitigkeiten von damals, die Brutalität, mit der wir uns voneinander trennten, lachen gequält, weil es wirklich brutal war und gemein und zügellos. Nicht wie Stalin, aber dennoch brutal. Später reden wir über Kommunalpolitik, verletzte Männeregos und Angst. »Weißt du, Schramm, Männlichkeitsvorstellungen sind so tief verankert, die kriegst du nicht mit Vernunft raus. Guck dir Stalin an, dem war die Föhnfrisur am Ende auch wichtiger als das Wohl der Menschen.« Ich seufze leise. »Ich habe immer an dich geglaubt, daran, dass du der Mann bist, den ich in dir sehe. Und, tada, du bist hier, wir reden«, sage ich entschlossen. »Das stimmt. Manchmal hat eben alles seine Zeit.« Er lächelt. Und ich denke, dass Männer das Wahlrecht vielleicht doch verdient haben, und muss ein wenig lachen. Sex mit meinem Bruder will ich trotzdem nicht. Dabei bleibt es.