German Angst
»Aber wenn sie sich so für ihr Land schämt, wieso geht sie dann nicht weg und gibt ihren Pass ab?« Die junge Sozialdemokratin sitzt empört vor mir. Sie gehört zu den Linken in der SPD, aber sie ist empört, ich sehe es am Blitzen in ihren Augen. Ich bin ein wenig irritiert, muss mich kurz sammeln. Es geht um die junge Kandidatin von der Linkspartei in Hamburg, die nach Filmen suchte, in denen Deutsche sterben. Als ich den Screenshot mit ihrem Spruch sah, musste ich stocken, musste stocken bei den Reaktionen darauf, dem widerlichen Shitstorm, den bemühten und aufgeregten Distanzierungen, der Empörung, den ideologischen Kämpfen, dem Aufhetzen und virtuellen Kreischen, Überbieten – und jetzt diese junge Sozialdemokratin, die da empört vor mir sitzt.
Als eine, die selbst schon einmal in einem solchen Gewitter stand, die sich bis heute jeden Tag vier Jahre alte Tweets vorhalten lassen muss, weil sie »antideutsch« waren, kommt mir das alles vertraut vor – und doch ist irgendwie alles anders, noch hysterischer, noch aufgeregter, noch abgründiger. Und ein kleiner Teil von mir denkt: War ich keine Lektion? Oder ist es alles nur noch schlimmer geworden? Ich denke darüber nach und versuche, der jungen Sozialdemokratin zu erklären, warum jemand so einen Spruch wie den mit den Filmen postet und dass dahinter keine realen Mordphantasien stehen. Nicht so wie bei den Nazis, die konkret planen, Menschen zu töten, und Todeslisten erstellen mit Namen meiner Genossinnen und Genossen. Ich versuche zu erklären, dass es am Ende eine komplizierte und intellektuell anspruchsvolle Debatte ist, dass es um Adorno geht, der Nationalsozialismus nach dieser Lesart eine Art militanter Arm des Deutschtums ist und es sich nicht lohnt, das trennen zu wollen. Dass »antideutsch« außerdem ein rechter Kampfbegriff ist; dass Angela Merkel auch als antideutsch bezeichnet wird, wegen der Geflüchteten, und dass der Gedanke dahinter, nämlich dass die Geflüchteten unser »deutsches Blut« verunreinigen, zutiefst rassistisch und völkisch ist. Ihre Augen blitzen immer noch, ich kenne dieses Blitzen, es ist ein emotionales Blitzen, ein Blitzen, das anzeigt, dass etwas grundlegend berührt wurde.
So richtig habe ich Patriotismus und Nationalismus nie verstanden, ein wenig herablassend war ich eher, ganz im Sinne von Bob Dylan, der sang: »They say that patriotism is the last refuge/To which a scoundrel clings«. Ich fand den Nationalstolz lächerlich. Ich finde ihn immer noch lächerlich. Angesichts von Auschwitz will und wollte ich mich auch nie wirklich mit deutschem Nationalismus identifizieren. Aber wenn ich heute auf den Hass und die Aggressionen gucke, wie aus allen Ecken »Deutschland, Deutschland« gerufen wird und jeder Satz, der den deutschen Nationalstolz verhöhnt, wie eine schwere Straftat behandelt wird, dann halte ich das zwar immer noch für lächerlich, aber es macht mir vor allem eines: Angst.