In den USA wird derzeit viel gestreikt, die Lage für Lohnabhängige ist relativ günstig

Viele kleine Weigerungen

Millionen US-Bürger kündigen ihre Arbeit, und auch die Zahl der Streiks steigt. Wegen der Pandemie sitzen in vielen Branchen die Angestellten am längeren Hebel.

Der Streik bei Wirecutter begann an Thanksgiving, also am letzten Donnerstag im November. Für viele US-Amerikaner ist Thanksgiving ein Urlaubswochenende, an dem sich die Familie versammelt – und an dem man einkauft. Für den Einzelhandel ist es das wichtigste Wochenende des Jahres. Besonders am sogenannten »Black Friday« überschlagen sich die Ladenketten mit Sonderangeboten.

Wirecutter ist eine Plattform für Produktempfehlungen der New York Times. Auch sie macht am langen Thanksgiving-Wochenende, an dem Weihnachtseinkäufe im Wert von Milliarden von US-Dollar über die Ladentheke gehen, gewöhnlich das beste Geschäft des Jahres. Doch in diesem Jahr legten 65 Angestellte ihre Arbeit bis zum sogenannten »Cyber Monday« nieder, an dem mit Schnäppchenangeboten im Internet die fünftägige Rabattschlacht zu Ende geht.

Zwischen Januar und August haben etwa 30 Millionen US-Bürger ihre Stelle gekündigt.

Die Plattform wurde 2011 gegründet und 2016 für knapp über 30 Millionen US-Dollar von der New York Times gekauft. Im jüngsten Geschäftsquartal verbuchte die Zeitung Profite von über 65 Millionen US-Dollar – woran das beliebte Webportal, das mittlerweile ein fester Bestandteil der US-amerikanischen Online-Shoppingkultur geworden ist, einen großen Anteil hatte. Doch die Angestellten bekommen von den Gewinnen nicht genug ab, kritisiert ihre Gewerkschaft.

Dass New Yorker Softwareingenieure und Marketingspezialisten in den Arbeitskampf treten, ist ungewöhnlich. Doch sie folgen dem Trend der Zeit: In den vergangenen Monaten kam es in den USA in den unterschiedlichsten Branchen zu Streikaktionen. Die School of Industrial and Labor Relations (IRL) der Cornell University veröffentlichte dieses Jahr ein neues Online-Tool, den »Labor Action Tracker«, mit dem man Streikaktionen im ganzen Land nachverfolgen kann. Deren Zahl liegt für dieses Jahr bereits bei 334. Der Projektleiter Johnnie Kallas sagte in einem Interview mit dem öffentlich-rechtlichen Radiosender NPR, dass es selbst in den Südstaaten verstärkt zu Streiks komme, obwohl dort die Gewerkschaften traditionell schwach seien. Gestreikt wurde von Alabama bis Utah, an Schulen, in Molkereien, Flughäfen, Krankenhäusern und vielen anderen Geschäftsbereichen. Weil die Zahlen vor allem im Herbst stiegen, prägten die Medien dafür den Begriff »Striketober«.

Ein Grund für die Streikwelle ist der Arbeitskräftemangel. Im Oktober lag die Arbeitslosenquote bei 4,8 Prozent, zu Beginn der Covid-19-Pandemie war sie kurzzeitig auf bis zu 15 Prozent hochgeschnellt. In fast allen Städten sieht man handgeschriebene Aushänge in den Schaufenstern: Mitarbeiter gesucht. Das ermöglicht es Arbeitern, höhere Löhne und bessere Arbeitsbedingungen zu fordern.

Doch die derzeit niedrige Arbeitslosenquote vermittelt nur ein unvollständiges Bild, denn wer in den USA nicht aktiv nach einer Stelle sucht, taucht auch in der Arbeitslosenstatistik nicht auf. Die Beschäftigungsquote ist deshalb trotz der niedrigen Arbeitslosenquote mit 61,6 Prozent immer noch knapp zwei Prozentpunkte niedriger als vor der Pandemie. Landesweit waren dem U.S. Bureau of Labor Statistics (BLS) zufolge Ende September über zehn Millionen Stellen unbesetzt. Die Kündigungen haben einen Höchststand erreicht, besonders im Servicesektor. Dem BLS zufolge gaben allein im August fast sieben Prozent der Beschäftigten im Sektor Beherbergungs- und Gaststättengewerbe ihren Arbeitsplatz auf. Zwischen Januar und August haben etwa 30 Millionen US-Bürger ihre Stelle gekündigt.

Es mangelt also weniger an Arbeitskräften als an der Bereitschaft vieler Menschen, die angebotenen Stellen auch anzunehmen und in ihnen zu bleiben. Viele haben anscheinend die Nase voll von miesen Jobs. »The Great Resignation« haben Ökonomen und Medien das getauft– das Große Kündigen. Über die Motive kann man bisher nur spekulieren: Hat sich bei den Arbeitern im Servicebereich während der Pandemie Frust aufgebaut, so dass sie nach besseren Stellen suchen oder es bevorzugen, zu Hause zu bleiben? Haben sich andere an die Arbeit zu Hause gewöhnt und keine Lust mehr, ins Büro zurückzukehren?

Ein Grund für die Streikwelle sei auch, dass die Beschäftigten kaum an Profiten beteiligt würden – so argumentierte zumindest die Autoindustriegewerkschaft United Auto Workers anlässlich des von ihr organisierten Streiks bei der Landmaschinenfirma John Deere. Mehr als 10 000 Angestellte legten von Oktober bis in den November die Arbeit nieder, es war der erste Streik bei der Landmaschinenfirma seit knapp drei Jahrzehnten. Der Weltkonzern aus Illinois konnte allein im aktuellen Quartal ein Profitwachstum von 69 Prozent vermelden, für das ganze Jahr werden fast sechs Milliarden US-Dollar Gewinn erwartet. Am Ende wurde ein Lohnanstieg um 20 Prozent über sechs Jahre vereinbart, ein einmaliger Bonus von 8 500 US-Dollar sowie weitere Zusatzzahlungen und Boni – für US-Industriearbeiter ein außergewöhnlicher Erfolg.

Und John Deere ist kein Einzelfall: In fast allen Branchen sind die Profite zuletzt stark gestiegen, die Gesamtprofite der US-Konzerne erreichten Regierungsangaben zufolge im dritten Quartal dieses Jahres einen Rekordwert von 2,54 Billionen US-Dollar, was selbst die Vorpandemiegewinne deutlich übertrifft. »Viele Manager beschweren sich über den Druck durch steigende Arbeits- oder Materialkosten. Aber insgesamt sind die Profite im Vergleich zum Vorjahr um 37 Prozent gestiegen«, kommentiert auch die Wirtschaftsnachrichtenagentur Bloomberg. Die Konzernprofitraten sind dem Bureau of Economic Analysis zufolge mit 15 Prozent derzeit so hoch wie zuletzt in den Fünfzigern.

Die gewaltigen staatlichen Konjunkturprogramme in der Pandemie haben nicht nur einzelne Unternehmen, sondern die ganze Wirtschaft gestützt, die nun wieder auf Hochtouren läuft. Viele hoffen deshalb, dass jetzt nach vielen Jahrzehnten, in denen die Gewerkschaften in der Defensive waren und immer weniger gestreikt wurde, die Arbeiter wieder aufmüpfig werden und langfristige Lohnsteigerungen erkämpft werden könnten.

Die hohe Nachfrage nach Arbeitskräften gibt auch einzelnen Arbeitern eine stärkere Verhandlungsposition: Man muss sich nicht mehr alles bieten lassen. Damit ändert sich auch die Kultur am Arbeitsplatz. Besonders jüngere Angestellte haben kein Problem damit, spontan zu kündigen, wenn sie mit den »Werten« ihres Arbeitgebers nicht einverstanden sind. Einer Analyse der Harvard Business School (HBS) zufolge engagieren viele große Firmen daher sogenannte »Generationsberater«, die den leitenden Angestellten den respektvollen Umgang mit der jüngeren Generation beibringen sollen: Wie gendert man richtig? Wir präsentiert man seine Firma in sozialen Medien? Wie stark sollte sich eine Firma beispielsweise gegen den Klimawandel und für Black Lives Matter und #MeToo engagieren?

Gesellschaftliche Themen dieser Art gewinnen an Bedeutung, gerade bei jugendorientierten Konzernen. Angeheizt wird das soziale Bewusstsein auch durch neue Kommunikationsplattformen im Büro, beispielsweise das Chatprogramm Slack, das eine firmenweite Kommunikation unter Angestellten ermöglicht – so kann binnen Minuten ein Protest oder eine Kündigungswelle organisiert werden.

Doch vermutlich wären diese Umwälzungen am Arbeitsplatz nicht möglich ohne die krisenbedingte finanzielle Unterstützung der US-Regierung für ihre Bürger. Immerhin hat die US-Regierung während der Covid-19-Pandemie mehrere Finanzhilfen gewährt und das Arbeitslosengeld aufgestockt – jedoch nur vorübergehend. Im September wurde zumindest das Arbeitslosengeld wieder zurückgestuft, was laut der Investmentbank Goldman Sachs »statistisch signifikante« Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt hatte. Die Welle an Streiks und Kündigungen ebbte trotzdem nicht ab – wohl weil die Arbeitslosenhilfe des Bundes sowieso nur von wenigen in Anspruch genommen werden kann.

Mit weiteren Finanzhilfen ist vorerst jedoch nicht zu rechnen, denn die Inflation erreichte mit 6,2 Prozent im vergangenen Jahr im Oktober einen neuen Hochstand. Der gerade für eine zweite Amtszeit nominierte Präsident der US-Notenbank Fed, Jerome Powell, hat angedeutet, dass die Niedrigzinspolitik des vergangenen Jahrzehnts in absehbarer Zukunft, vermutlich in den nächsten zwei Jahren, enden soll. Wie sich also der Arbeitsmarkt in Zukunft entwickeln wird, ist noch völlig unklar.

Doch manche Trends werden sich vermutlich nicht mehr umkehren lassen. So ist beispielsweise das Homeoffice nunmehr ein fester Bestandteil der Arbeitskultur geworden. Auch die Forderung nach mehr Kinderbetreuung wird immer lauter. Man spricht heute in den USA oft nicht mehr von work-life balance, sondern von life-work balance – das Leben soll an erster Stelle stehen.