11.08.2022
Die Berlin-Biennale hat eine ähnlich inhaltsleere Vorstellung vom Postkolonialismus wie die Documenta fifteen

Maßlose Überschätzung

Auch die zwölfte Ausgabe der derzeit laufenden Berlin-Biennale hat wie die parallel laufende Documenta den Postkolonialismus zum Thema. Aber wie in Kassel bleibt der Begriff des Kolonialismus blass, während die Möglichkeiten der Kunst überschätzt werden.

Zu den wohl gröberen Missverständnissen über die zeitgenössische Kunst dürfte jenes über deren gesellschaftliche Relevanz gehören. In der unein­gestandenen Ungewissheit über ihre eigene Existenzberechtigung stellt sie sich emphatisch unter einen nur unzureichend umrissenen Begriff des Politischen und versteht sich immer mehr als eine Form von politischem Aktivismus, was sich auf den internationalen Großausstellungen und Biennalen der Gegenwart vor allem in einer Hinwendung zu post- und dekolonialen Motiven äußert.

Auch die zwölfte Berlin-Biennale, die unter dem Titel »Still Present!« derzeit an sechs verschiedenen Ausstellungsorten stattfindet, möchte, wie der Titel andeutet, die Gegenwart kolonialer Vergangenheit verhandeln, indem sie »Gegenerzählungen zum kolonialen Narrativ« entwirft und »dekoloniale Strategien für die Zukunft« erprobt. Gegen die Ansicht, Kunst könne durch die ästhetische Erfahrung, die sie ermöglicht, ein spezifisches Verhältnis sowohl zur Vergangenheit als auch zur Zukunft stiften und überhaupt politische Diskurse in einer Weise perspektivieren, in der diese selbst es nicht vermögen, wäre zunächst nichts einzuwenden – ginge sie nicht einher mit einer Überhöhung und Überschätzung der Kunst, die jenem Missverständnis über ihre gesellschaftliche Relevanz entspringen.

Denn die Fragen, die auf der Berlin-Biennale von kuratorischer Seite an die künstlerischen Arbeiten gestellt werden, sind solche, denen eigentlich erst außerhalb der Kunst Relevanz zukommt: Fragen zu den Möglichkeiten einer dekolonialen Ökologie, zum Bestreben feministischer Bewegungen aus dem »Globalen Süden«, zur Wiederaneignung von Geschichte oder zur Debatte über die Restitution von Raubkunst. Der Anspruch, der so an die Werke herangetragen wird, könnte größer kaum sein.

Er spiegelt sich auch in der Position des französischen Künstlers Kader Attia wider, der die Berlin-Biennale in Kooperation mit einem künstlerischen Team aus Ana Teixeira Pinto, Đo Tuong Linh, Marie Helene Pereira, Noam Segal und Rasha Salti kuratiert hat. Attia spricht in seinem Einführungstext von »materiellen und immateriellen Wunden«, die der Kolonialismus hinterlassen habe und deren Reflexion es bedürfe, gerade durch die Kunst, von der er glaubt, dass nur sie »dem Imperialismus, der den Keim des Faschismus in sich trägt, und seinen Staatsapparaten erfolgreich entgegentreten kann«, weil sie unberechenbar sei. Wie Attia im Text mit den Begriffen Kolonialismus, Faschismus und Imperialismus hantiert, ohne sie historisch zu fundieren, sei dahingestellt – dass man sich eine Kunst, die seinem Anspruch genügte, nicht einmal vorstellen kann, zeigt an, dass ein derartiges Wunschdenken der maß­losen Überschätzung der zeitgenössischen Kunst geschuldet ist.

Zu fragen wäre, wie es die Künstlerin Hito Steyerl bereits in Bezug auf die Documenta 15 getan hat, warum der deutsche Kontext kolonialer Vergangenheit auch bei der Berlin Biennale wie in Kassel kaum eine Rolle spielt.

Tatsächlich wird Attias Ansinnen auch den ästhetischen und politischen Implikationen der künstlerischen Arbeiten auf der Biennale kaum gerecht, wie divergent sich diese auch immer im Einzelnen darstellen mögen. Statt die Kunst also durch grobschlächtige Gegenwartsdiagnosen unbeholfen zu kontextualisieren und übermäßig zu theoretisieren, wäre die Frage nach den ästhetischen Spezifika einer als dekolonial verstandenen Kunst dringlicher, indes auch weitaus schwieriger zu beantworten. Unabhängig davon, ob sich die künstlerischen Arbeiten selbst einer wie auch immer gearteten dekolonialen Ästhetik verpflichtet fühlen oder ihre kuratorische Etikettierung nicht eher dem Diktat einer sich politisch progressiv gebenden Kunstwelt gehorcht, dürfte es zumindest nicht ausreichen, auf die nichtwestliche Sozialisation vieler der Künstlerinnen zu verweisen. Denn gerade durch die Fülle der Materialien, Medien und Formen, mit denen sie arbeiten, lassen sich ihre Werke schwerlich auf einen gemeinsamen Nenner bringen.

Medienästhetisch lässt sich auf der Berlin-Biennale zumindest eine starke Tendenz zu dokumentarischen Videoinstallationen registrieren, die neben anderen installativen Arbeiten, Fotografien und Malereien vor allem ausgestellt sind und von denen einige zu den ästhetisch und politisch interessantesten Arbeiten gehören. Beispielsweise »Silence of Sheep« von Amal Kenawy, eine Videodokumentation der gleichnamigen Performance, die die ägyptische Künstlerin 2010, kurz vor Ausbruch des »Arabischen Frühlings«, in der Kairoer Innenstadt aufführte. Rund 20 Menschen kriechen darin durch die Straßen von Kairo und symbolisieren die demütigende Unterdrückung und Repression, unter der sie während der Präsidentschaft Hosni Mubaraks litten.

Fast erschütternder als die Performance selbst sind die Reaktionen der Öffentlichkeit, die das Video dokumentiert. Um Kenawy sammelt sich während der gesamten Performance, und auch noch lange danach, eine Schar von Männern, denen es als eine Anmaßung erscheint, dass eine Frau den öffentlichen Raum für ihre künstlerische Arbeit reklamiert. Anders als die Videodokumentation »Silence of Sheep« erscheinen die Zeichnungen, Skizzen und Fotografien Kenawys, von denen auch eine Auswahl auf der Biennale zu sehen ist, sowie die Video­animation »The Purple Artificial Forest«, in denen Kenawy den Zerfall belebter Natur und Körper mit unbelebten Alltagsgegenständen konfrontiert, weniger politisch kühn denn emotional qualvoll aufgeladen: Sie starb 2012 an Leukämie, mit der ­Erkrankung sich Kenawy in ihrem Werk auseinandersetzt.

Eindringlich ist auch die Arbeit »Les Gorgan« von Mathieu Pernot, eine fotografische Serie über eine Roma-Familie, die in Südfrankreich am Rande von Arles lebt. Pernot lernte die Familie, die schon seit über einem Jahrhundert in Frankreich beheimatet ist, in den neunziger Jahren kennen, besuchte sie seitdem regelmäßig und hielt auf den Fotografien ihre prekären und subalternen Lebensbedingungen fest. Unterteilt ist die dokumentarisch-ethnographische Arbeit in verschiedene Serien über einzelne Familienmitglieder, die äußerst intim, aber nie voyeuristisch wirken.

Den Kunstcharakter seiner Fotografien leugnet Pernot nicht: Die teilweise den Lebensalltag stark ästhetisierenden Bilder kehren ihre Kunsthaftigkeit gerade dort hervor, wo sie eigentlich bloß alltägliche Momentaufnahme sein zu wollen vorgeben. Pernot sucht auf den Bildern, seine Präsenz hinter der Kamera zu nivellieren; das gelingt ihm wohl nur deshalb, weil er in den Familienalltag völlig integriert zu sein scheint, was sich in die Rolle des Betrachtenden hinein verlängert. Ähnlich verhält es sich auch mit »Dikhav – Les Bords du fleuve«, einem Film Pernots über ­dieselbe Familie, der seinen Höhepunkt an Sensibilität erreicht, wenn die Mutter weinend den früh verstorbenen Sohn besingt.

Einen gänzlich anderen Charakter weisen die beiden überdimensionalen Fototapeten von Alex Prager mit den Titeln »Crown #4 (New Haven)« und »Women Now« auf. Prager inszeniert auf ihren Fotografien Ansammlungen von Menschen, für die sie Statistinnen und Kleidung auswählt, Posen und Interieurs arrangiert. Die Inszenierung fällt, anders etwa als bei Jeff Wall, unmittelbar ins Auge, weil sich die disparaten Handlungen der Personen kaum an irgendeinem Ort so ereignen könnten, die Bilder erschöpfen sich darin aber keineswegs.

Prager betont auf den Fotografien den Konflikt zwischen einer sich scheinbar zufällig bildenden Gemeinschaft und dem Individualismus der darin befindlichen Personen sowie die Spannungen unter diesen selbst. Die in ihren sozialen Rollen überzeichneten Figuren – insbesondere »Women Now« erinnert dadurch an die Fotografien von Cindy Sherman – gehen aber nicht in der Menge unter, sondern ihr Individualismus, wie ihn Prager heraushebt, zielt eigentlich auf die Verhinderung jeglicher Form von Gesellschaft. ­Darin lassen sich ihre Fotografien auch als Sinnbild der neoliberalen Ära lesen.

Spannungsreich im Verhältnis von Form und Inhalt sind wiederum die Acrylmalereien von Calida Garcia Rawles, auf denen schwarze Menschen im Wasser dargestellt sind. Die Asso­ziation zu ertrinkenden Flüchtlingen im Mittelmeer ist intendiert, wird aber durch den Glanz der Acrylfarbe sowie die harmonisierende Darstellung von Mensch und Natur gebrochen. Äußerst lehrreich ist darüber hinaus die Arbeit von Zuzanna Hertz­berg, ein installatives Archiv zur Frauengeschichte jüdischen Widerstands in den Ghettos und national­sozialistischen Konzentrations- und Vernichtungslagern in Osteuropa, wie auch die von Nil Yalter, ein Foto- und Videoarchiv migrantischer Frauen und Familien in Frankreich, das die mittlerweile über 80jährige Künst­lerin bereits 1983 unter dem Titel »Exile Is a Hard Job« zeigte.

Wie sich all diese Arbeiten unter dem Schlagwort des Dekolonialismus zusammenfassen lassen, bleibt eigentlich rätselhaft, möchte man den Begriff des Kolonialismus nicht all­gemein als Ausdruck von Macht, Unterdrückung, Ausgrenzung, Vertreibung und Ermordung von Menschen, Körpern, Lebensweisen und Emotionen verstanden wissen – wodurch man ihn historisch und politisch tendenziell entleeren würde. Zu fragen wäre daher auch, wie es die Künstlerin Hito Steyerl bereits in Bezug auf die Documenta 15 getan hat, warum die deutsche koloniale Vergangenheit bei der Berlin-Biennale wie in Kassel kaum eine Rolle spielt. Einzig die sehr sehenswerten Videoarbeiten von Maithu Bùi über vietnamesische Gastarbeiterinnen in Deutschland und Elske Rosenfelds »Archive of Gestures« über uneingelöste emanzipato­rische Versprechen der sogenannten friedlichen Revolution in der DDR berühren sie. Im Übrigen kann insgesamt der Eindruck entstehen, das Gros des kolonialen Übels dieser Welt ginge von einem kleinen Land am östlichen Rand des Mittelmeers namens Israel aus, ist dessen Politik Gegenstand nicht gerade weniger Arbeiten – was groteskerweise wohl durch den Antisemitismusskandal auf der Documenta untergegangen ist.

Unabhängig davon erscheint die Berlin-Biennale jedoch ästhetisch und politisch vielfach verbindlicher als jene. Ihren Anspruch als dekoloniale Kunstausstellung, die die Einheit von Moderne und Kolonialismus reflektieren möchte, kann sie gleichwohl nur bedingt einlösen. So bleibt auch die Formensprache der modernen Kunst, auf die sich nicht wenige Werke mehr oder minder explizit beziehen, oft seltsam unangetastet, und auch die Ausstellung der als ­Dokumente bezeichneten Werke von Emil Nolde und Karl Schmidt-Rottluff, die sich zum Kolonialismus in ihren Arbeiten affirmativ wie kritisch verhalten, wirkt kontextlos und eher ohnmächtig.

Dass die künstlerischen Arbeiten in ihrer schier grenzenlosen Fülle zumindest auch Gefahr laufen, sich gegenseitig zu neutralisieren; dass sie zudem häufig bloß auf moralische Betroffenheit des westlichen Kunst­publikums treffen, das sich mit Mitleid am Unrecht der Welt narzisstisch begnügt, das, wie Hannah Arendt meinte, politisch bedeutungslos bleibt, wäre ferner zu problematisieren. Überhaupt scheint die zeitgenössische Kunst, auch die der Berlin-Biennale, immer mehr eine politische Ersatzfunktion zu erfüllen. Statt die Kunst aber kuratorisch weithin mit politischen Anliegen und Fragen zu überfrachten und sie in den Dienst des Politischen zu stellen, wäre es an ihr, Fragen zu stellen, die sie selbst nicht zu beantworten vermag.

Die Berlin-Biennale läuft noch bis zum 18. September.