In der Türkei ist ein neuer Streit ums Kopftuch entbrannt

Nächste Runde im Kopftuchstreit

Die Türkei entfernt sich unter Präsident Erdoğan immer weiter von laizistischen Grundsätzen. Bald könnte über ein Gesetz abgestimmt werden, das Frauen ein Recht auf das Kopftuchtragen in staatlichen Institutionen garantieren soll.

Der Aufstand vieler Frauen im Iran gegen den Zwang zur Verhüllung und das frauenfeindliche System bringt in der Türkei unausweichlich Erinnerungen an den langen und erbitterten Streit ums Kopftuch im eigenen Land in Erinnerung. In der Türkei ging es in die umgekehrte Richtung, aber ebenfalls mit Zwang. Die vom ersten Präsidenten Kemal Atatürk (1923 bis 1938) und der damaligen Einheitspartei Cumhuriyet Halk Partisi (CHP, Republikanische Volkspartei) gegründete Republik Türkei verfolgte eine Politik der autoritären Modernisierung. Dazu gehörte die Trennung von Staat und Religion nach dem Vorbild des französischen Laizismus. Allerdings behielt sich der Staat mit dem Präsidium für Religionsangelegenheiten (Diyanet İşleri Başkanlığı) den Zugriff auf die Religion zu seinen Zwecken vor.

Der sunnitische Islam blieb auf diese Weise eine Art Staatsreligion, denn es gab eine solche Direktion eben nur für diese eine Glaubensrichtung, die auf diese Weise auch offiziell gefördert wurde. Während der Staat unter der Hand ein sehr ambivalentes Verhältnis zur Religion hatte, verbot er seinen Beamtinnen und Frauen in einigen anderen Berufen, darunter Juristinnen, Ärztinnen und Krankenpflegerinnen, sowie Schülerinnen und Studentinnen, das Kopftuch als religiöses Symbol zu tragen.

Mittlerweile ist es Frauen sogar beim Militär und der Polizei erlaubt, ein Kopftuch zu tragen. Seit Erdoğans islamisch-konservative AKP 2002 die Regierung übernommen hat, wendet sich das Land mehr und mehr vom laizistischen Staatsmodell ab.

Einen Höhepunkt erreichte der Kopftuchstreit, als am 2. Mai 1999 Merve Kavakçı das Parlament mit Kopftuch betrat, um ihren Eid als neu gewählte Abgeordnete zu leisten. Das Parlament tobte, der sozialdemokratische Ministerpräsident Bülent Ecevit (Demokratik Sol Parti, DSP) rief: »Zeigt dieser Frau ihre Grenze!« Aus der Vereidigung wurde nichts. Ein paar Tage später wurde Kavakçı die türkische Staatsbürgerschaft aberkannt, weil sie die Behörden vor der Wahl nicht darüber informiert hatte, dass sie auch US-Bürgerin war. Sie erhielt ihre türkische Staatszugehörigkeit allerdings 2017 zurück.

Nur fünf Tage nach Kavakçıs Auftritt mit Kopftuch wurde ein Verbotsverfahren gegen ihre Partei eingeleitet, die islamistische Fazilet Partisi (Tugendpartei, FP), die der Millî-Görüş-Bewe­gung zugerechnet wurde. Es endete knapp zwei Jahren mit dem Verbot der damals größten türkischen Oppositionspartei. Zwei Nachfolgeparteien traten an die Stelle der FP, eine davon ist die Adalet ve Kalkınma Partisi (Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung, AKP) des heutigen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan.

Doch die Zeiten und die Machtverhältnisse haben sich sehr gewandelt. Mittlerweile ist es Frauen sogar beim Militär und der Polizei erlaubt, ein Kopftuch zu tragen. Seit Erdoğans islamisch-konservative AKP 2002 die Regierung übernommen hat, wendet sich das Land mehr und mehr vom laizistischen Staatsmodell ab.

Im Juni des kommenden Jahres stehen Parlaments- und Präsidentschaftswahlen an. Erdoğans Wiederwahl ist keineswegs sicher, vor allem aufgrund seiner eigensinnigen Wirtschaftspolitik, die zu einer Inflation von offiziell über 80 Prozent geführt hat. Als größte Oppositionspartei hat die CHP eine Chance, Erdoğans Nachfolger zu stellen, in dessen Hand dann so ziemlich alle Macht im Staate gebündelt wäre. Im Moment sieht es so aus, als werde der Vorsitzende der CHP, Kemal Kılıçdar­oğlu, antreten. Doch viele hassen die kemalistische Partei, wobei auch ihr einst unnachgiebiges Festhalten am Kopftuchverbot eine Rolle spielt.

Also gab Kılıçdaroğlu am 3. Oktober bekannt, er habe einen Vorschlag, der allen gefallen werde, auch dem »Palast«. Letzteres war eine Anspielung auf Erdoğans üppigen Amtssitz. Die CHP habe in der Vergangenheit Fehler gemacht, aber nun werde er einen Gesetzentwurf einbringen, der sowohl die Freiheit, ein Kopftuch zu tragen, als auch die Freiheit, kein Kopftuch zu tragen, garantiere. Am Tag darauf trug der Entwurf die Unterschrift von 132 der 135 Parlamentsabgeordneten der CHP. Nicht allen dürfte die Unterschrift leichtgefallen sein. Der Zorn der Laizisten kochte dort hoch, wo der CHP-Vorsitzende ihn nicht kontrollieren kann: in der kleinen antikapitalistischen Sol Parti (Linke Partei). Kılıçdaroğlu kopiere Erdoğans AKP und »eine Logik, die die Freiheit der Frauen durch Rückschrittlichkeit zu erreichen versucht, akzeptieren wir nicht«, hieß es in einer Erklärung der Partei.

Erdoğan meinte zunächst, ein solches Gesetz sei unnötig. Doch es dauerte nicht lange, bis er sich eines anderen besann. Nun argumentierte der Präsident, ein einfaches Gesetz sei nicht ausreichend. Eine dauerhafte Lösung erfordere vielmehr eine Verfassungsänderung. Wenn die CHP da nicht mitmache, werde man eben ein Referendum ansetzen. Mittlerweile arbeitet das Justizministerium an einem Entwurf für die Verfassungsänderung. Dort und in der AKP wurde unterdessen auch entdeckt, dass Kılıçdaroğlu ein Fehler unterlaufen war. Die Berufsgruppen, die früher von Kopftuchverboten betroffen waren, hatte er in seinem Gesetzentwurf zwar zutreffend erfasst, die Studentinnen aber ausgelassen.

Dabei hatte das Verbot des Kopftuchs an türkischen Universitäten lange Zeit im Mittelpunkt der öffentlichen Auseinandersetzung gestanden. Die strengen Wächter des Laizismus ließen es irgendwann durchgehen, dass konservative Frauen eine Maskerade mit Perücke über dem Kopftuch betrieben. 2010 begann die AKP, das seit der Staatsgründung 1923 existierende Kopftuchverbot in staatlichen Einrichtungen zu lockern, Studentinnen dürfen seitdem mit Kopftuch türkische Universitäten besuchen. Seit 2012 erlaubt eine geänderte Verwaltungsvorschrift auch das Tragen von Kopftüchern für Schülerinnen an staatlichen Schulen, wenn sie den Koranunterricht oder die Religionsschule besuchen, seit 2014 dann allen Schülerinnen ab der fünften Klasse.
Die Frauenplattform für Gleichheit (ESIK) wehrt sich gegen eine »maskuline Politik, die über den Körper und die Kleidung von Frauen« ausgetragen wird. Außerdem erinnert die ESIK daran, dass es in der Regierung schon lange Planungen für eine Verfassungsreform gibt. Sie sieht den in der Verfassung festgeschriebenen Grundsatz der Gleichheit vor dem Gesetz (Paragraph 10) und in der Familie (Paragraph 41) sowie die in Paragraph 24 garantierte Freiheit der Religion und des Gewissens in Gefahr.

Wie die Änderungen aussehen werden, ist noch nicht bekannt, aber tatsächlich nennen Vertreter der Regierung immer wieder Paragraph 24, der auch den Religionsunterricht betrifft, und Paragraph 41. Die ESIK hat guten Grund, misstrauisch zu sein. Seit Jahren stellt Erdoğan die Gleichheit von Mann und Frau immer wieder in Frage und er hat auch den Austritt der Türkei aus der Istanbul-Konvention zum Schutz von Frauen vor Gewalt und häuslicher Gewalt erklärt, obwohl ihm das verfassungsrechtlich nicht einmal zusteht (Jungle World 14/2021). Wer sich selbst nicht an die Verfassung halte, solle auch keine Verfassung schreiben, meint die ESIK.

Mittlerweile hat sich die Debatte völlig von Kılıçdaroğlus Gesetzentwurf gelöst. Aber auch der hatte nicht viel mit den Bedürfnissen von Frauen in der Türkei zu tun. Wenn man das diesbezügliche Engagement der Parteien am Anteil weiblicher Mitglieder misst, so ist das Ergebnis eindeutig. Erdoğans AKP kommt auf knapp 19 Prozent, Kılıçdar­oğlus CHP auf zwölf Prozent. Zeichen der Solidarität mit den Frauen in Iran kommen vor allem von der prokurdischen HDP und von unabhängigen Frauen und Frauenorganisationen.

Auch das Schüren von Ressentiments gegen LGBT-Personen gehört zu Erdoğans Wahlkampfvorbereitung. Die Familie müsse gestärkt werden, meint er, um dann die rhetorische Frage hinzuzufügen: »Kann es in einer starken Familie so etwas wie LGBT geben?« Der Angriff auf LGBT-Personen kommt nicht von ungefähr. Innenminister Süleyman Soylu hatte sie schlicht als »pervers« bezeichnet. Nach Erdoğans Ansicht »vergiften« sie die Jugend und unterminieren »unsere nationalen und spirituellen Werte«.

Im September konnten regierungsnahe Organisationen in Istanbul gegen LGBT-Rechte demonstrieren, während die Istanbuler Pride Parade, wie seit sieben Jahren üblich, verboten wurde. Dieses Jahr ging die Polizei bei der Durchsetzung des Verbots besonders repressiv vor. Doch wenn der Präsident schon mal dabei ist, auf Kılıçdaroğlus harmlosen Vorschlag in der einen oder anderen Weise seine eigenen Ziele draufzusatteln, kann man noch mehr erwarten.