Bianca Loy, Bundesverband Rias, über einen neuen Bericht zu ­judenfeindlichen Entwicklungen

»2.480 antisemitische Vorfälle«

Die Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus (Rias) erfasst bundesweit antisemitische Vorfälle unabhängig von einer möglichen Strafbarkeit. Am Dienstag hat sie ihren dritten Jahresbericht mit Daten aus dem Kalenderjahr 2022 vorgestellt. Die »Jungle World« sprach mit Bianca Loy, wissenschaftliche Referentin des Bundesverbands Rias.
Small Talk Von

Was sind die wesentlichen Ergebnisse des Jahresberichts?
Vorfälle extremer Gewalt – also Angriffe, die zum Tod oder schweren Verletzungen führen können – haben vergangenes Jahr mit neun Fällen einen Höchststand seit Beginn der bundesweiten Erfassung 2017 erreicht. Neun der 21 Fälle dieser Art, die uns seither bekannt geworden sind, fallen ins vergangene Jahr. Gleichzeitig begegnet Antisemitismus den Betroffenen in alltäglichen Situationen – in Geschäften, im öffentlichen Nahverkehr oder der eigenen Wohnung. Aus Hamburg ist uns ein Fall bekannt, in dem die Bedienung des Cafés die Kippa eines Gastes antisemitisch kommentiert hat. Gerade solche Vorfälle sind es, die den Alltag von Betroffenen nachhaltig prägen.

Kann man etwas über die Täter sagen?
Jeder fünfte antisemitische Vorfall hatte einen verschwörungstheoretischen Hintergrund. Erstmals haben wir mehr Vorfälle dieser Art als solche mit rechtsextremem Hintergrund registriert. Gerade zu Jahresbeginn spielten hierbei Proteste gegen die Coronamaßnahmen eine Rolle. Allerdings ziehen solche Demonstrationen auch Rechtsextreme an, die dabei nicht immer offen in Erscheinung treten. Das gleiche gilt für Demonstrationen zum russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine.

Die Gesamtzahl antisemitischer Straftaten war 2022 laut bundesweiter Kriminalstatistik im Vergleich zum Vorjahr gesunken. Entspricht das den Beobachtungen des Bundesverbands Rias und falls ja, was sind die Gründe für diese Tendenz?
Für 2022 dokumentierte Rias 2.480 antisemitische Vorfälle, also fast sieben Vorfälle pro Tag. Das sind elf Prozent weniger Vorfälle als im Vorjahr. 2021 prägten noch zwei Faktoren das Geschehen: die Coronapandemie und neuerliche Eskalationen im arabisch-israelischen Konflikt. 2022 blieben derartige Anlässe weitgehend aus. Einen neuen Anlass bot der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine, zu dem elf Prozent der Vorfälle einen Bezug aufweisen. Dabei spielten vor allem antisemitische Verschwörungsmythen eine Rolle, denen zufolge geheime Mächte das Weltgeschehen lenkten.

Lassen sich regionale Besonderheiten feststellen?
Allein in Nordrhein-Westfalen wurden uns vier Fälle extremer Gewalt bekannt. Zum Beispiel wurden in Essen mehrere Schüsse auf das Rabbinerhaus der Alten Synagoge abgegeben. Die Ermittlungsbehörden vermuteten damals eine Verbindung von mehreren dieser Fälle zum Iran und seinem Auslandsgeheimdienst. Aber auch in Bayern, Berlin, Hessen und Niedersachsen wurden Fälle extremer Gewalt dokumentiert. Auffällig war, dass es zu Vorfällen infolge öffentlicher Debatten kam. Ein prominentes Beispiel ist die Documenta 15, die Anlass für antisemitische Vorfälle in Hessen auch außerhalb der Kunstausstellung war. Medial weniger präsent waren die antisemitischen Vorfälle im Kontext des Jahrestags des Olympia-Attentats in München.

Deutlich wurde auch: Ein großer Teil der Vorfälle spielt sich online ab. So verzeichnete Rias Berlin die Hälfe der Vorfälle online. Doch Antisemitismus in den sozialen Medien hat auf die Betroffenen häufig eine ähnlich einschneidende Wirkung wie Vorfälle, die sich von Angesicht zu Angesicht ereignen.