Die »Letzte Generation« und ihr Traum der Bürgerbeteiligung

Beratungsresistente Herrschaft

Die »Letzte Generation« fordert die Einrichtung eines Gesellschaftsrats. Dass es sich hierbei in der Praxis nur um die Simulation einer Bürgerbeteiligung handeln kann, zeigen Beispiele aus der Vergangenheit. Eine Kolumne über den Politzirkus.
Sternstunden des Parlamentarismus Von

Zum politischen coming of age gehört die Einsicht, dass die bürger­liche Demokratie – entgegen allen Beteuerungen – gar nicht darauf ausgerichtet ist, den Willen der Mehrheit umzusetzen. Diese Einsicht ist meist schmerzvoll, zumindest bis man beginnt, der Mehrheit der Menschen und insbesondere der Mehrheit der Deutschen mindestens so sehr zu misstrauen wie den Berufspolitiker:innen.

Mich desillusionierte die Politik im September 1999, ich war zehn Jahre alt und gerade auf einem Gymnasium in Kiel eingeschult worden. Während meiner Grundschulzeit war die deutsche Rechtschreibung reformiert worden, doch ausgerechnet in Schleswig-Holstein hatte es 1998 einen erfolgreichen Volksentscheid für die Wiedereinführung der alten Rechtschreibung gegeben. Die damalige schleswig-holsteinische Ministerpräsidentin Heide Simonis (SPD) hatte bereits vor dem Referendum verkündet, sie werde das Ergebnis nur anerkennen, wenn es für die neue Rechtschreibung ausfalle – dementsprechend beschloss eine Mehrheit des schleswig-holsteinischen Landtags im September 1999, das Ergebnis des Volksentscheids aufzuheben.

Ich war schockiert. Nicht, weil ich eine Präferenz bezüglich der von mir zu lernenden Rechtschreibung gehabt hätte, sondern ob der eklatanten Frechheit, die sich die Politik vermeintlich herausnahm, ein Ergebnis direkter Demokratie zu nullifizieren. Was mir damals entging, war selbstverständlich, dass es hanebüchen gewesen wäre, hätte Schleswig-Holstein tatsächlich als einziges Bundesland die alte Rechtschreibung beibehalten. Nicht zuletzt, weil es allen Gleichaltrigen und Nachgeborenen den Abgang aus dieser Provinz erschwert hätte.

Trotzdem habe ich seitdem vor jedem Volksentscheid erwartet, dass das Ergebnis nur akzeptiert würde, wenn es den Herrschenden genehm ist. Man denke nur an den Berliner Volksentscheid »Deutschen Wohnen&Co. enteignen«, in dessen Zusammenhang Franziska Giffey durchaus als Wiedergängerin ihrer Genossin Heide Simonis gesehen werden kann – obgleich die Umsetzung des Berliner Volksentscheids im Gegensatz zum schleswig-holsteinischen auch retrospektiv richtig gewesen wäre. Doch im Spätkapitalismus braucht man nicht darauf zu hoffen, dass Wohnungskonzerne enteignet werden, sondern allenfalls darauf, dass Giffeys Karriere sie dorthin führt, wo die von Simonis ihr Ende fand, nämlich zur RTL-Show »Let’s Dance«.

Die Praxis, Volksentscheide zwar zuzulassen, aber nicht in die Tat umzusetzen, befördert zwangsläufig die »Politikverdrossenheit«, sie steigert das Gefühl der Ohnmacht der Bürger:innen in der bürgerlichen Demokratie.

Die Praxis, Volksentscheide zwar zuzulassen, aber nicht in die Tat umzusetzen, befördert zwangsläufig die »Politikverdrossenheit«, sie steigert das Gefühl der Ohnmacht der Bürger:innen in der bürgerlichen Demokratie. Deshalb sind die Herrschenden seit geraumer Zeit auf der Suche nach anderen Formaten, die den Beherrschten den Eindruck vermitteln sollen, mitreden zu dürfen. Eine hierzulande vornehmlich von den Grünen lancierte Idee sind die sogenannten Bürger:innenräte, bei denen zufällig ausgewählte Menschen über ein mehr oder weniger konkretes Thema diskutieren und am Ende genauso viel Einfluss haben wie der Volksentscheid »Deutsche Wohnen&Co. enteignen« – nämlich keinen.

Nur ist es leichter zu verkaufen, dass beispielsweise der baden-württembergische Landtag nicht an die »Empfehlungen« des dort demnächst stattfindenden »Bürgerforums zur Dauer des Gymnasiums« gebunden wird. Schließlich soll es aus »40 bis 60 zufällig ausgewählten Bürgerinnen und Bürgern« bestehen, eine Anzahl, die jede Meinungsforscherin erschaudern lassen dürfte, weil die so formierte Gruppe keinerlei Anspruch auf Repräsentativität erheben kann. Ohnehin geht es nur um die Simulation einer Bürgerbeteiligung. »Am Ende«, sagte der baden-württembergische Ministerpräsident, Winfried Kretschmann (Grüne), »entscheiden Regierung und Parlament – wie in der Verfassung vorgesehen.« Geschenkt, dass nach der Verfassung ausschließlich der Landtag über Gesetze entscheidet – die Gewaltenteilung ist eben eine weitere Illusion der bürgerlichen Demokratie.

Offensichtlich noch nicht desillusioniert ist die Gruppe »Letzte Generation« (LG), zu deren Forderungen die Einrichtung eines »Gesellschaftsrats« gehört, der »aus zufällig gelosten Menschen, die die Bevölkerung Deutschlands nach Kriterien wie beispielsweise Alter, Geschlecht, Bildungsabschluss und Migrationshintergrund bestmöglich abbilden«, zusammengesetzt werden solle. Der Rat solle die Frage beantworten, wie »Deutschland bis 2030 die Nutzung fossiler Rohstoffe auf sozial gerechte Weise« beenden könne, und aus 160 Menschen bestehen – auch diese Zahl ist so klein, dass keinerlei Anspruch auf Repräsentativität erhoben werden kann.

»Die Entwicklung der konkreten Maßnahmen findet in professionell moderierten Kleingruppen statt«, so die LG, »der Prozess wird medial begleitet und das ganze Land fiebert mit, was der Rat bespricht.« Die Bundesregierung müsse für die vom Rat beschlossenen Maßnahmen »nötige Überzeugungsarbeit im Parlament leisten und die Gesetze nach Verabschiedung in einer beispiellosen Geschwindigkeit und Entschlossenheit umsetzen« – und dies im Vorhinein zusichern. Zudem fordert die LG, dass über die Einberufung des Rats »in TV-Brennpunkten« und »auf den Titelseiten der Zeitungen« berichtet werden müsse. Nur eines sprengt die Vorstellungskraft der LG: Dass ein derartiger »Gesellschaftsrat« etwas anderes beschließen könnte als exakt das, was sie sich wünscht.