Die Letzte Generation ausspähen
»Es gibt keine Satzung, kein Kassenbuch, keinen schmissigen Namen oder einen Gruppenchat« hatte Oberstaatsanwältin Alexandra Geilhorn in ihrem Plädoyer zum sogenannten Antifa-Ost Verfahren eingeräumt. Dennoch forderte sie am 5. April acht Jahre Freiheitsstrafe für die Hauptangeklagte Lina E. Vergangenen Mittwoch endete nun am Oberlandesgericht Dresden das Verfahren gegen Lina E. und ihre drei Mitangeklagten mit einer Haftstrafe von fünf Jahren und drei Monaten Haft für die Hauptangeklagte.
Das Urteil erging unter anderem auf der Grundlage des Paragraphen 129 des Strafgesetzbuchs (StGB). Der Richter sah die Mitgliedschaft von Lina E. in einer kriminellen Vereinigung als erwiesen an. Ein Mitangeklagter wurde ebenfalls wegen Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung verurteilt, die zwei übrigen wegen Unterstützung einer solchen.
Razzia in sieben Bundesländern
In sieben Bundesländern hatte die Polizei am Morgen des 24. Mai 15 Wohnungen und Geschäftsräume durchsucht, die in Zusammenhang mit der Gruppe Letzte Generation stehen sollen. Die Durchsuchung wurde von der Generalstaatsanwaltschaft München veranlasst, bei der auch die Bayerische Zentralstelle zur Bekämpfung von Extremismus und Terrorismus angesiedelt ist, und richtete sich gegen sieben Beschuldigte, die der Klimaschutzgruppe angehören sollen. Ihnen wird – wie Lina E. – die Bildung beziehungsweise Unterstützung einer kriminellen Vereinigung vorgeworfen.
Ob das Hervorrufen kurzer Verkehrsstaus und einfache Sachbeschädigungen Straftaten von »einigem Gewicht« oder gar eine erhebliche Gefahr für die öffentliche Sicherheit sind, lässt sich anzweifeln.
Laut einer Pressemitteilung verdächtigt das LKA zwei der Beschuldigten, die »Transalpine Ölleitung« (TAL) zwischen Triest und Ingolstadt sabotiert zu haben. Daneben nennt der Durchsuchungsbeschluss nach Angaben der Taz, auch eine lange Liste weiterer Straftaten, von Klebeaktionen auf Autobahnen über Sachbeschädigungen bis zu Störungen an Flughäfen. Ziel der Durchsuchung soll laut LKA die Sicherstellung von Beweismitteln zur organisatorischen Struktur und Finanzierung der Letzten Generation gewesen sein. Der Taz zufolge wurde in dem Dokument auch die Suche nach Belegen für linksradikales und verfassungswidriges Gedankengut aufgeführt.
Das LKA wirft den Beschuldigten zudem vor, eine Spendenkampagne über die Webseite der Letzten Generation betrieben zu haben. Dabei sollen sie mindestens 1,4 Millionen Euro eingenommen haben. Das LKA behauptet, die Spendengelder seien überwiegend zur Begehung von Straftaten verwendet worden. Zwei Konten wurden beschlagnahmt und die Gelder eingefroren, die Webseite der Letzten Generation abgeschaltet.
Es sind nicht die ersten Ermittlungen gegen die Letzte Generation wegen Bildung einer kriminellen Vereinigung. Die Staatsanwaltschaft Neuruppin ermittelt ebenfalls seit einigen Monaten gegen sie. Dabei geht es vor allem um Sabotageakte an der PCK-Ölraffinerie im brandenburgischen Schwedt.
Vorwurf juristisch umstritten
Allerdings ist der Vorwurf, die Letzte Generation sei eine kriminelle Vereinigung, juristisch umstritten. Bezweifelt wird vor allem, ob die von der Letzten Generation begangenen Straftaten schwerwiegend genug sind. Der Paragraph 129 StGB bezieht sich auf Vereinigungen, »deren Zweck oder Tätigkeit auf die Begehung von Straftaten gerichtet ist, die im Höchstmaß mit Freiheitsstrafe von mindestens zwei Jahren bedroht sind«.
Unter anderem der ehemalige Bundesrichter Thomas Fischer hat in einem Beitrag für Legal Tribune Online argumentiert, dass diese 2017 eingeführte Bedingung als hinreichende zu verstehen sei. Viele Jurist:innen fordern aber, dass die Straftaten auch eine »erhebliche Gefahr für die öffentliche Sicherheit« bedeuten und »von einigem Gewicht« sein müssen, wie es der Bundesgerichtshof für die alte Gesetzesfassung formuliert hatte.
Legt man diesen strengeren Maßstab an, dürfte es schwierig werden, die Letzte Generation als kriminelle Vereinigung einzustufen. Die meisten der ihr vorgeworfenen Straftaten sind zwar mit einer Maximalstrafe von zwei Jahren oder mehr bedroht. Ob sich daraus aber eine erhebliche Gefahr für die öffentliche Sicherheit ableiten lässt, bezweifeln viele Jurist:innen.
»Kein krimineller Zweck«
Die Auswirkungen der Straßenblockaden seien schließlich vergleichbar mit den üblichen Folgen von Demonstrationen, die fast immer mit Störungen des Verkehrs einhergehen, wie Thorsten Koch, Professor an der Berliner Hochschule für Wirtschaft und Recht, in seinem Beitrag zur Debatte »Kleben und Haften: Ziviler Ungehorsam in der Klimakrise« auf dem Verfassungsblog hervorgehoben hat. Auch ob das Hervorrufen kurzer Verkehrsstaus und einfache Sachbeschädigungen Straftaten von »einigem Gewicht« oder eine erhebliche Gefahr für die öffentliche Sicherheit sind, lässt sich bezweifeln.
Anders könnte es bei Blockaden von Ölpipelines oder Raffinerien aussehen. Ob diese vereinzelten Taten aber ausreichen, um aus der Letzten Generation eine kriminelle Vereinigung zu machen, ist ebenfalls zweifelhaft. Michael Kubiciel, Strafrechtsprofessor in Augsburg, wies auf dem Verfassungsblog darauf hin, dass die Begehung von Straftaten dem Paragraphen 129 StGB zufolge nicht bloß ein untergeordneter Zweck der Vereinigung sein darf. Genau das läge aber für die vereinzelten schwerer wiegenden Taten der Letzten Generation nahe, denn sie würden nicht das Gesamterscheinungsbild der Gruppe prägen.
Auch bei den übrigen von der Letzten Generation begangenen Straftaten – vor allem Nötigungen und Sachbeschädigungen – ist unklar, ob sie als Hauptzweck der Gruppe angesehen werden können. Die Strafrechtsprofessorin Katrin Höffler schreibt auf dem Verfassungsblog: »Man kann der Organisation ›Letzte Generation‹ insgesamt keinen kriminellen Zweck unterlegen.«
Auch ohne Verurteilung ist die Einleitung eines Ermittlungsverfahrens für die Strafverfolgungsbehörden attraktiv, weil sie in einem Verfahren nach Paragraph 129 StGB zusätzliche Befugnisse erhalten, die für schwerere Straftaten reserviert sind, wie Telefonüberwachungen oder unter bestimmten Bedingungen auch Online-Durchsuchungen.
Es geht ihr in der Tat zuerst um Klimaschutz, und zwar auch nicht etwa über eine durch Straftaten erzeugte Einschüchterung der Gesellschaft, sondern vielmehr um eine Motivierung und Mobilisierung für das allgemein anerkannte Ziel.« Dem widerspricht Klaus Ferdinand Gärditz. Die Begehung von Straftaten sei, so der Professor für öffentliches Recht, ein prägendes Moment der Letzten Generation und verschaffe ihren Forderungen erst die gewünschte Öffentlichkeit.
Dennoch könnte es gut sein, dass die Verfahren gegen die Letzte Generation wie so viele andere auf der Grundlage von Paragraph 129 StGB im Sande verlaufen. Viele der Fälle schaffen es nie bis vors Gericht oder die gesammelten Beweise reichen nicht für eine Verurteilung. Dass es trotzdem immer wieder auch zu Verurteilungen kommt – und sei es nur auf einer dünnen Beweisgrundlage – zeigt das »Antifa Ost«-Verfahren.
»Türöffner-« oder »Schnüffelparagraph«
Doch auch ohne Verurteilung ist die Einleitung eines Ermittlungsverfahrens für die Strafverfolgungsbehörden attraktiv, weil sie in einem Verfahren nach Paragraph 129 StGB zusätzliche Befugnisse erhalten, die für schwerere Straftaten reserviert sind, wie Telefonüberwachungen oder unter bestimmten Bedingungen auch Online-Durchsuchungen. Der Paragraph wird deshalb auch als »Türöffner-« oder »Schnüffelparagraph« bezeichnet.
Der Paragraph 129 StGB hat eine lange Geschichte als Instrument zur Verfolgung oppositioneller Gruppen und Ausspähung ihrer Organisationsstrukturen. Vorläuferparagraphen, die sich bis ins Preußen des späten 18. Jahrhunderts zurückverfolgen lassen, richteten sich nicht allgemein gegen kriminelle Vereinigungen, sondern speziell gegen solche mit politischer Ausrichtung.
Auch in seiner Fassung im Reichsstrafgesetzbuch von 1871 war das noch offensichtlich. Der Paragraph 129 RStGB sollte es ermöglichen, Vereinigungen zu kriminalisieren, die versuchen, die »Maßregeln der Verwaltung oder die Vollziehung von Gesetzen durch ungesetzliche Mittel zu verhindern oder zu entkräften«. Erst 1951 wurde er so geändert, dass er auch unpolitische kriminelle Vereinigungen erfasste. Gleichwohl waren es nicht zuletzt Kommunist:innen, die in den fünfziger Jahren unter Rückgriff auf Paragraph 129 StGB verfolgt wurden.
Im Umgang mit oppositionellen Bewegungen gibt der Paragraph 129 StGB den Strafverfolgungsbehörden ein Instrument an die Hand, um Menschen zu kriminalisieren, lange bevor sie eine Straftat begehen.
Nach der Einführung des Paragraphen 129a im Jahr 1976, der terroristische Vereinigungen gesondert kriminalisiert, wurde der Paragraph 129 relativ willkürlich gegen verschiedenste Gruppen eingesetzt. Häufig waren es Linke, gegen die er zur Anwendung kam, doch auch rechte und islamistische Gruppen trifft es mittlerweile öfter. Lange Zeit war es dagegen in vielen Fällen unmöglich, Gruppen der organisierten Kriminalität zu verfolgen, weil die vorherrschende Interpretation des Vereinigungsbegriffs sich noch am alten Bild einer politischen Organisation orientierte, das hierauf oft nicht passte. 2017 wurde das durch eine Gesetzesänderung behoben.
Stigmatisierung politischer Gruppen
Im Umgang mit oppositionellen Bewegungen gibt der Paragraph 129 StGB den Strafverfolgungsbehörden zudem ein Instrument an die Hand, um Menschen zu kriminalisieren, lange bevor sie eine Straftat begehen. Denn der Paragraph erfordert nicht, dass man sich an den strafbaren Handlungen beteiligt hat, auf die die Vereinigung abzielen soll. Es ist nicht einmal erforderlich, dass solche Straftaten bereits begangen wurden. Vielmehr genügt bereits die bloße Unterstützung einer Vereinigung mit angeblich kriminellen Zielen aus, um sich strafbar zu machen. Im Fall der Letzten Generation bleibt deshalb abzuwarten, ob sich Staatsanwaltschaften finden, die schon die Finanzierung der Letzten Generation – etwa durch Spenden – als Unterstützungsleistung ansehen.
Eine solche Kriminalisierung soll politische Gruppen stigmatisieren und abschrecken sowie staatliche Handlungsbereitschaft und Stärke demonstrieren. Insbesondere gegen die Letzte Generation scheint der Staat deutlich machen zu wollen, »dass der Rechtsstaat sich nicht auf der Nase herumtanzen lässt«, wie es Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) in einer Stellungnahme zu den Durchsuchungen formuliert hat.
Rechtsstaat – das meinte einmal den Schutz des Einzelnen vor der staatlichen Gewalt. Diese Bedeutung scheint sich immer mehr in ihr Gegenteil zu verkehren. Der Paragraph 129 StGB leistet dafür hervorragende Dienste.