Im Juni 1961 kam es auf den Lippoldsberger Dichtertagen zum Generationenkonflikt zwischen Rechtsextremen

Dichter in Lippoldsberg

Als Hans Grimm die Lippoldsberger Dichtertage nach 1945 wiederaufleben ließ, avancierte die völkische Veranstaltung zu einem wichtigen Treffen der sich neu konstituierenden extremen Rechten in der BRD. Der Versuch, dieses Treffen im Juli 1961 für eine internationale Vernetzung von jungen Rechtsextremen zu nutzen, scheiterte an einem Generationenkonflikt.

Lippoldsberg im Weserbergland ist eine kleine, beschauliche Gemeinde. Hier hatte sich der deutsche Schriftsteller Hans Grimm nach dem Ersten Weltkrieg ein ehemaliges Klosterherrenhaus gekauft, in dem er seinen Bestseller »Volk ohne Raum« schrieb. Der Roman erschien 1926 und avancierte zur ideologischen Referenz der nationalsozialistischen Expansionspolitik. Von 1934 bis 1939 richtete Grimm jeden Frühsommer ein Dichtertreffen im Klosterhof aus, bei dem völkische Autorinnen und Autoren vor einigen Tausend Zuhörenden lasen. NS-Propagandaminister Joseph Goebbels ließ die Zusammenkunft jedoch nach 1939 verbieten, da sie ihm als Konkurrenz zu offiziellen Literaturveranstaltungen des NS-Regimes unerwünscht waren.

Ab 1949 nahm Grimm diese Treffen wieder auf. Am Rande der Veranstaltung trafen und vernetzten sich Rechtsextreme, etwa Mitglieder der Deutsche Reichspartei, später waren auch NPD-Politiker dabei. Auch trafen hier ehema­lige NS-Funktionäre und interessierte »Unbelehrbare« der Frontgeneration mit Angehörigen nationalistischer Jugendorganisationen zusammen. Dazu präsentierten sich neu gegründete rechtsextreme Zeitschriften und Verlage. Lippoldsberg wurde zu einem Wallfahrtsort der sich gerade wieder organisierenden extremen Rechten, 2.000 bis 3.000 Teilnehmende soll der Lippoldsberger Dichtertag von 1949 gezählt haben.

Hans Grimm starb 1959. Danach richtete seine Tochter Holle die jährliche Veranstaltung aus. Die Ärztin gründete 1960 die rechtsextreme Gesellschaft für freie Publizistik mit und trat später der NPD bei. Bei der Organisation der Dichtertreffen unterstützte sie der österreichische Vielschrei­ber Erich Kern, ehemals SS-Untersturmführer und regelmäßiger Gast der Dichtertage.

Viel Protest gegen die nationalsozialistische und geschichtsrevisionistische Traditionspflege auf den Dichtertagen regte sich in den Nachkriegsjahren nicht. Ansässige Hoteliers und Gas­tronom:innen begrüßten das hohe Gästeaufkommen. Die evangelische Kirchengemeinde Lippoldsberg stellte die Klosterkirche für ein sonntägliches klassisches Konzert zur Verfügung. So weit, so scheinbar bürgerlich.

Im Sommer 1961 befand sich der europäisch orientierte Rechtsextremismus durch die fortschreitende Dekolonisierung in einer Krise.

Im Jahr 1961 boten die Dichtertage zum ersten und einzigen Mal den Rahmen für ein großangelegtes europäisches Jugendtreffen. Dieses ambitionierte Vorhaben sollte die europaweite Vernetzung der extremen Rechten vorantreiben und eine Brücke zwischen den Generationen schlagen. Holle Grimm lud ein, wen sie konnte: den Bund Heimattreuer Jugend, den Bund Nationaler Studenten, die Wiking-Jugend – somit die bedeutendsten rechtsextremen Jugendbünde dieser Zeit – und einige europäische Jugendorganisationen.

350 bis 400 junge Menschen folgten ihrer Einladung nach Lippoldsberg. Die meisten waren aus der Bundesrepublik angereist, einige aus Frankreich, Finnland, Schweden, Dänemark, Belgien, dem faschistischen Spanien, Italien, der Schweiz, Österreich und Großbritannien. Eine Delegation kam aus Südafrika, einem Land, in dem damals Apartheid herrschte und mit dessen Vertretern viele extreme Rechte in der Bundesrepublik enge Beziehungen pflegten. Unter dem Schlagwort »Eurafrika« firmierte während und nach dem Zweiten Weltkrieg die Idee, die afrikanischen Länder gehörten sozusagen als Hinterland zur »Nation Europa« dazu.

Die jungen Teilnehmenden zelteten unterhalb des Klosterhofs oder bewohnten das frisch eingeweihte »Europäische Jugendheim« auf dem Klostergelände. Die weiblichen Besucherinnen waren angehalten, bei der Essensversorgung zu helfen. Viele der Jugendlichen und jungen Erwachsenen erschienen in der Kluft ihrer Jugendbünde. Diese bestand in der Regel nicht nur aus einheitlicher Kleidung wie Hemd, Hose und Halstuch oder Schulterklappen und Abzeichen, dazu gehörte auch ein sogenanntes Fahrtenmesser mit einer bis zu 16 Zentimeter langen Klinge.

Deshalb kam es gleich zu Beginn der Tagung zu einem ersten Konflikt zwischen einigen jungen Männern und der hessischen Polizei, die die Veranstaltung in diesem Jahr besonders gründlich beobachtete. Als die Beamten versuchten, das Uniformverbot durchzusetzen, kippte die Stimmung. Die Polizei forderte die Teilnehmenden auf, ihre Fahrtenhemden und Fahrtenmesser abzulegen. Einige junge Männer beschlossen daraufhin kurzerhand, aus Protest mit nacktem Oberkörper am ersten Programmpunkt, dem gemeinschaftlichen Singen im Klosterkeller, teilzunehmen. Dies sah die Polizei wiederum als Provokation und die Familie Grimm musste die Beteiligten anhalten, sich wieder zu bekleiden. Die Stimmung blieb von diesem Zeitpunkt an äußerst angespannt.

Hans Grimms jüngster Enkel Arnulf begrüßte die Teilnehmenden anschließend mit dem Appell, am Aufbau eines »Staats Europa« mitzuwirken. Er betonte, dass man gemeinsam zwar keine Resolutionen fassen wolle, aber mit dem Treffen dennoch den Grundstein lege für eine ständige europäische Begegnung der Jugendverbände. Anschließend sprach Tobie Goedewaagen, ein ehemaliges führendes Mitglied der niederländischen Nationalsozialistischen Bewegung, unter einem Schirm im Klosterhof zu den Jugendlichen, die im strömenden Regen seinen Ausführungen über die verschiedenen Regionen und Völker Europas mitunter missmutig zuhörten. Seine Aussage, dass es keine klar getrennten Rassen gebe, sondern nur Rassenmischungen, führte zu empörten Zwischenrufen.

In der anschließenden Diskussion, die offenbar schwer zu moderieren war, lehnten junge Teilnehmende aus Frankreich und Belgien die Ausführungen des Referenten ab. Es sei doch notwendig, so ein belgischer Teilnehmer, im Namen Europas zwei Feinde zu bekämpfen: zum einen den französischen Präsidenten Charles de Gaulle, der die Kolonie Algerien opfern wolle, und zum anderen den Kommunismus. Damit knüpfte er an die seit einigen Jahren international geführte Debatte über die Ziele einer »Nation Europa« an, an der sich Kollaborateure und ehemalige Nationalsozialisten zahlreicher europäischer Länder beteiligten. Im Sommer 1961 befand sich dieser europäisch orientierte Rechtsextremismus durch die fortschreitende Dekolonisierung in einer Krise.

Es sei doch notwendig, so ein belgischer Teilnehmer, im Namen Europas zwei Feinde zu bekämpfen: zum einen den französischen Präsidenten Charles de Gaulle, der die Kolonie Algerien opfern wolle, und zum anderen den Kommunismus.

Als Überraschungsgast sprach am späteren Abend Hans-Ulrich Rudel, der sich im Krieg als berüchtigter und hochdekorierter Schlachtflieger der Wehrmacht hervorgetan hatte. Er sollte eigentlich am Lagerfeuer sprechen, was aber der Dauerregen vereitelte. Der bis weit in konservative Kreise hinein verehrte Rudel hatte sich nach seiner Entlassung aus US-amerikanischer Kriegsgefangenschaft 1946 nach Argentinien absetzen können, von wo er unablässig versuchte, in der bundesdeutschen Politik Fuß zu fassen. In Lippoldsberg führte er aus, dass sein ­letztes Buch in der BRD als jugendgefährdend »verboten« worden sei, und konnte mit seiner Parteinahme für soldatisches Ethos und Befehlsausführung das Publikum begeistern. Das Jugendtreffen in Lippoldsberg sei für ihn der Morgenschimmer der Zukunft Europas.

Am Sonntagmorgen zerfaserte das Treffen dann etwas, da es drei Zusammenkünfte gab: eine offizielle im ­Klosterhof und zwei inoffizielle in einem Restaurant beziehungsweise einem Hotel jenseits der nahegelegenen Grenze zu Niedersachsen. Hier hatte die hessische Polizei keine Befugnis, was offenbar einige Teilnehmende der Jugendverbände zu unverhohlenen Aufrufen zum Terrorismus ermutigte. Das stieß nicht bei allen auf Begeisterung. Zu sehr bangte man um das Ansehen und die Zukunft des Dichtertreffens. Das Ringen der Alten mit dieser Sorge ­zeigte sich in Rudels Appell an die anwesenden Jugendbünde, die Autorität der Frontgeneration als Erzieher der Jugend anzuerkennen. Wusste man sich in Lippoldsberg sonst wegen des Blicks der Öffentlichkeit bedeckt zu halten – abgesehen vom üblichen Geschichtsrevisionismus und völkischen Kulturverständnis, die kaum als anstößig galten –, kam es in diesem Jahr immer wieder zu fanatischen rassistischen und antisemitischen Ausfällen, umstürzlerischen Verabredungen und extremistischen Bekenntnissen, wie ein Beobachter der Treffen schilderte.

Nach dem Jugendtreffen und dem anschließenden Dichtertag gab es erstmals seit Wiederaufnahme der Dichtertage umfangreiche negative Presseberichte und öffentliche Protestschreiben von Bürgerinnen und Bürgern an lokale Behörden. Die Kirchengemeinde Lippoldsberg untersagte für das Folgejahr die Nutzung der Klosterkirche – ein schwerer Einschnitt für die Grimms. Der in vielerlei Hinsicht gescheiterte Versuch einer europäischen Vernetzung ließ Holle Grimm lange nicht los. Hinter vorgehaltener Hand schob sie alle Schuld für die Eskalation den ausländischen Jugendgruppen zu und folgte dem brieflichen Rat Erich Kerns, den Jugendtag »stillschweigend fallen(zu)lassen«. Es galt, den Ansehensverlust zu begrenzen. Kern schrieb weiter, sie und ihre Familie hätten die Situation unterschätzt und mit »der Sache« gespielt wie Kinder mit einer gefundenen Handgranate.

Aus Angst vor weiteren polizeilichen Maßnahmen und schließlich einem Verbot der Lippoldsberger Dichtertreffen verlegte Holle Grimm sich wieder ganz auf die alte, nationalistisch taktierende Generation. Von europäischer Vernetzung der Jugend war keine Rede mehr. Die Lippoldsberger Dichtertage fanden noch bis 1981 statt, besucht wurden sie in diesem Jahr lediglich von 200 Personen.