Die »dritte Generation« der RAF privatisiert heute – allerdings immer noch im Untergrund

Wenn das Politische privat wird

1998 verabschiedeten sich die verbliebenen RAF-Mitglieder mit einer Erklärung in das Privatleben. Der Preis, den sie selbst – und andere – für die politischen Irrtümer der RAF zahlten, war sehr hoch. Das kürzlich festgenommene vermutliche RAF-Mitglied Daniela Klette verbrachte mehrere Jahrzehnte in der Illegalität.

Am Abend des 26. Februar wurde die der sogenannten dritten Generation der RAF zugeordnete Daniela Klette von Zielfahndern des Landeskriminalamts Niedersachsen in Berlin festgenommen. Am 28. Februar hatte im Deutschen Theater Berlin Elfriede Jelineks »Ulrike Maria Stuart« Premiere. Regisseurin Pınar Karabulut versprach in einem Gespräch mit ihrem Dramaturgen: »Potenziert durch den Standort des Deutschen Theaters, quasi in unmittelbarer Nähe des Regierungszentrums, untersuchen wir die politischen Fragen, die sich bereits mit der RAF gestellt haben und die wir uns wieder stellen müssen: Wann ist zum Beispiel Widerstand politisch und wann ist er Terrorismus?«

Dass die Regisseurin dafür weite Teile von Jelineks Text gestrichen hat, dient der Klärung der aufgeworfenen Fragen nach Auffassung etlicher Kritiker:in­nen nicht. Auch die Fragestellung selbst irritiert eher, als dass sie einen ins Theater treibt – vor allem der Dualismus von nicht näher beschriebenem »­Widerstand« einerseits, der »politisch« ist, und »Terrorismus« andererseits ­erscheint recht fernab der heutigen Verhältnisse, wie sie sich in so unterschiedlichen Konstellationen zeigen: dem Überfall der Hamas auf Israel, dem Krieg Russlands gegen die Ukraine, der zunehmenden Attraktivität ­autoritärer, antidemokratischer Bewegungen und Herrscher und dem weitgehend tatenlosen Hinnehmen des Klimawandels.

Möglicherweise befindet sich das Deutsche Theater nicht nur räumlich, sondern auch mental inmitten der deutschen Verhältnisse, in denen die RAF ganz unabhängig davon, was tatsächlich von ihr nach der Auflösung geblieben ist, eine eher mythisch überhöhte Bedeutung behalten hat.

»Und laßt euch nicht schnappen und lernt von denen, wie man sich nicht schnappen läßt – die verstehen mehr davon als ihr.« RAF-Erklärung, 1970

Vor 54 Jahren hatte die Gruppe mit der Befreiung des inhaftierten Andreas Baader ihren ersten spektakulären Auftritt, bei dem der Bibliotheksangestellte Georg Linke und ein Justizbeamter angeschossen wurden. Wenig später erschien der von Gudrun Ensslin namentlich unterzeichnete Aufruf »Die Rote Armee aufbauen!«, der die Mobilisierung der »potentiell revolutionären Teile des Volkes« bewirken sollte, sich aber mangels eines geeigneten Verteilers doch nur an die Leser:innenschaft der linksradikalen Agit 883, die »falschen Leute«, die »kleinbürgerlichen Intellektuellen«, wenden konnte: »Sitzt nicht auf dem hausdurchsuchten Sofa herum und zählt eure Lieben, wie kleinkarierte Krämerseelen. Baut den richtigen Verteilerapparat auf, laßt die Hosenscheißer liegen, die Rotkohlfresser, die Sozialarbeiter, die sich doch nur anbiedern, dies Lumpenpack. Kriegt raus, wo die Heime sind und die kinderreichen Familien und das Subproletariat und die proletarischen Frauen, die nur darauf warten, den Richtigen in die Fresse zu schlagen. Die werden die Führung übernehmen. Und laßt euch nicht schnappen und lernt von denen, wie man sich nicht schnappen läßt – die verstehen mehr davon als ihr.«

»Rote Armee aufbauen«, Zerwürfnisse und Spaltungen in der Linken

Das Versprechen war, »die Rote Armee« aufzubauen, um »die Konflikte auf die Spitze treiben zu können«. Das eine gelang nicht, auf das andere mochte die RAF gleichwohl nicht verzichten– in den Jahren seitdem haben dafür viele, auf sehr unterschiedliche Weise, einen hohen Preis gezahlt. Die RAF selbst, die bald überwiegend aus Gefangenen bestand, von denen etliche die Haft nicht überlebt haben, während andere bei Anschlägen ums Leben kamen oder bei der Gefangennahme ­getötet wurden; ­zudem Polizei- und Justizbeamte, Diplomaten, Wirtschaftsführer, Banker, die bei Einsätzen, Attentaten und Geiselnahmen erschossen wurden.

Aber auch Justiz, Politik und Rechtsstaat haben den Kampf der RAF nicht unbeschadet überstanden. Hochschullehrer wurden suspendiert, Menschen, die als Sympathisanten galten (und es bisweilen auch waren), wurden verfolgt; die radikale und weniger radikale Linke erlebte Zerwürfnisse und Spaltungen.

Nach dem Fall der Mauer am 9. November 1989, der den Weg zum Beitritt der DDR zur BRD frei machte, wurde am 30. November der Vorstandschef der Deutschen Bank, Alfred Herrhausen, ermordet, sein Fahrer ­Jakob Nix wurde bei dem Bombenanschlag schwer verletzt.

In der Erklärung zu diesem Anschlag schrieb die RAF inhaltsleer, der »revolutionäre Prozeß« brauche »neue Dynamik und produktive Wechselbeziehungen«. Nur »zusammen« könnten »die Kämpfe« die nötige Kraft entwickeln, um »destruktive Entwicklungen des Imperialismus zu stoppen und überhaupt seine ganze zerstörerische Entwicklungsrichtung umzudrehen«.

1991 erschossen Mitglieder der RAF den damaligen Leiter der Treuhandanstalt, die Staatseigentum der DDR in Privatvermögen überführte, Detlev Karsten Rohwedder. Es war der letzte tödliche Anschlag der Stadtguerilla, als die sich die RAF-Mitglieder verstanden.

»Die Eskalation zurücknehmen«

Die Erklärung der Gruppe vom 4. April 1991 kritisierte die »Annexion« der DDR, die sie »faktisch zu einer Kolonie der Bundesrepublik« gemacht hätte: »Wir begreifen unsere Aktion gegen einen der Architekten Groß-Deutschlands auch als Aktion, die diese reaktionäre Entwicklung an einer Wurzel trifft.«

Davon war dann ein gutes Jahr später nicht mehr die Rede. Am 10. April 1992 erklärte die RAF, sie wolle »die Eskalation zurücknehmen«: Es sei »klar geworden«, dass es »so« nicht weitergehen könne, denn: »wir hatten unsere politik ganz stark auf angriffe gegen die strategien der imperialisten reduziert, und gefehlt hat die suche nach unmittelbaren positiven zielen und danach, wie eine gesellschaftliche alternative hier und heute schon anfangen kann zu existieren.«

Es dauerte noch sechs weitere Jahre, bis aus der Suche nach »unmittelbaren positiven Zielen« die Entscheidung für die Auflösung der RAF wurde, die einen knappen Abriss der Geschichte der RAF mit einer eigenen, abschließenden Positionsbestimmung verband: »Wir, die wir uns zum großen Teil erst spät in der RAF organisierten, wollten unsere Grenzen durchbrechen und frei sein von allem, was uns im System hält.« Das Resümee der RAF in diesem letzten Schreiben fiel denkbar schlicht, dafür aber erstaunlich selbstbewusst aus: »Die RAF konnte keinen Weg zur Befreiung aufzeigen. Aber sie hat mehr als zwei Jahrzehnte dazu beigetragen, daß es den Gedanken an Befreiung heute gibt.« Was diese »Befreiung« allerdings sein soll und wie sie auch nur ansatzweise aussehen könnte, bleibt offen.

Diskreditiertes Konzept der »Befreiung«

Das freundliche, abschließende ­Gedenken der RAF an die »GenossInnen der palästinensischen Befreiungsfront PFLP«, deren »internationale Solidarität beim Versuch, die politischen Gefangenen zu befreien«, 1977 in der Entführung eines vollbesetzten Passagierflugzeugs und der Ermordung des Pilo­ten bestand, diskreditiert dieses unbestimmte Konzept der »Befreiung« jedenfalls.

Seit der Auflösungserklärung von 1998 haben sich die, die sie verfasst und sich darin als »ehemalige Militante der RAF« bezeichnet hatten, nicht mehr zu Wort gemeldet. Sie verstehen sich mittlerweile offenbar als Privatpersonen, die nach ihrem Rückzug aus dem aktiv militanten Leben keine ­weiteren politischen Verpflichtungen mehr haben. Ob die jetzt noch gesuchten Ernst-Volker Staub und Burkhard Garweg oder die verhaftete Daniela Klette dazu gehören, weiß man nicht.

Auch der Staat hat bisher wenig ­getan, um seine Rolle in dem Geschehen offenzulegen. Damit »alle Hintergründe« aufgedeckt werden können, bedürfte es auch insoweit einer Freigabe von Dokumenten.

Was mit den Indizien, die Medienberichte derzeit nicht ganz widerspruchsfrei aufzählen, tatsächlich belegt werden kann, wird sich erst in ­einem gerichtlichen Verfahren klären. Dass es in einem solchen Verfahren um die »Aufklärung aller Hintergründe« gehen wird, wie der grüne Innenpolitiker Konstantin von Notz, Vorsitzender des Parlamentarischen Kon­trollgremiums des Bundestags, fordert, erscheint allerdings eher unwahrscheinlich.

Zum einen setzte das voraus, was derzeit allenfalls vermutet werden kann, dass nämlich Daniela Klette und eventuelle weitere Angeklagte zu einer ­solchen umfassenden Aufklärung überhaupt in der Lage sind. Es verlangte aber zum anderen und mehr noch, dass sie nämlich, wenn sie es könnten, auch daran interessiert wären. Dafür spricht derzeit zumindest das Schweigen über Taten und Tatumstände sowie das nach wie vor offensichtliche Desinteresse zumindest der »ehemaligen Militanten der RAF« an den Opfern ­ihrer Anschläge gerade nicht.

Auch der Staat hat bisher wenig ­getan, um seine Rolle in dem Geschehen offenzulegen. Damit »alle Hintergründe« aufgedeckt werden können, bedürfte es auch insoweit einer Freigabe von Dokumenten: von den Protokollen des Krisenstabs über die Initi­ativen des Verfassungsschutzes, um Aussteiger zu (möglicherweise falschen) Aussagen motivieren, bis zu den vollständigen ­Ermittlungsakten – zumindest für Wissenschaftler:innen, die daran ein substantielles Forschungsinteresse geltend machen können.