Mit Pilzen lassen sich klimaschonende Materialien herstellen

Dämmplatte ai funghi

Ob als Handtasche, Schnitzel oder Baumaterial: Pilze können eine klimaschonende Alternative zu herkömmlichen Materialien sein. Über die möglicherweise große Zukunft oft unterschätzter Lebewesen.

Pilze fristen nicht nur wortwörtlich am Waldboden ein Schattendasein, sondern auch bei den Vorstellungen, die sich die meisten Menschen von der biologischen Vielfalt des Planeten machen. So erntete die Autorin schon des Öfteren überraschte Reaktionen auf die Erklärung, dass es sich bei Pilzen nicht um Pflanzen handelt, sondern um eines der großen Reiche des Lebens neben den Tieren und Pflanzen. Tatsächlich sind Champignons, Brotschim­mel & Co. sogar enger mit unsereinem verwandt als mit all dem Grünzeug um uns herum.

Das Allgemeinwissen über Pilze beschränkt sich zumeist auf ihre Rolle in der Jägersoße, als Halluzinogene oder Erbfallbeschleuniger; manchen kommen vielleicht auch noch von Schimmelpilzen produzierte Antibiotika wie das Penicillin oder die einzelligen Hefepilze der Gattung Saccharomyces in den Sinn, ohne die wir auf Wein, Bier und viele Brotsorten verzichten müssten. Doch eine Bewusstseinserweiterung findet längst nicht mehr nur durch den Konsum von magic mush­rooms statt, sondern auch in Bezug auf den möglichen Nutzen der oft unterschätzten Organismen.

So kann man es zwar kaum als Innovation bezeichnen, dass Pilze auf dem Teller landen; neu ist jedoch, dass sie anstelle von Fleisch und nicht mehr nur als Beilage dazu serviert werden. Dem Boom der Fleischersatzprodukte ist es zu verdanken, dass man sich mittlerweile auch durchaus überzeugende Veggieschnitzel auf Pilzbasis auf den Grill hauen kann. Zwar dominieren in diesem Bereich bislang pflanzliche Erzeugnisse mit Soja- oder Weizenprotein, doch eigentlich sind Pilze in vielerlei Hinsicht die bessere Wahl.

Im Wald wachsende Pilze sind die einzige Kategorie von Lebensmitteln mit einer negativen CO2-Bilanz.

Ihre Textur ähnelt eher dem tierischen Vorbild, es sind also weniger lebensmitteltechnische Tricks notwendig, um eine fleischartige Faserstruktur zu erzeugen. Auch in Sachen Aroma haben sie mehr zu bieten: vor allem in der Geschmacksrichtung umami, also jener herzhaften Note, die vielen den Verzicht auf Fleisch so schwermacht. Wobei die Industrie bei verarbeiteten Tierprodukten häufig kräftig nachwürzt – nicht selten mit Hefeextrakt, also einem Pilzprodukt, das reich an dem Aromastoff Glutamat ist.
Pilzschnitzel & Co. dürften sogar eine bessere Ökobilanz aufweisen als pflanzliche Fleischimitate: Diese schneiden zwar in Sachen Ressourcenverbrauch und CO2-Produktion deutlich besser ab als das entsprechende Fleischprodukt, doch dass der Ackerbau in seiner heutigen Form meist auch keine ökologische Musterveranstaltung ist, hat sich mittlerweile herumgesprochen.

Viele Pilze sind hingegen genügsame Saprophyten, sie gedeihen also auf abgestorbener organischer Materie. Ob das Veggiesteak allerdings noch als strikt vegan gilt, wenn zur Heranzucht der Ausgangsstoffe neben Pflanzenkompost auch Nebenprodukte aus der Nutztierhaltung – vulgo: Mist – zum Einsatz kommen, darf gerne hitzig diskutiert werden.
Andere Vertreter des Taxons Fungi leben in einer Symbiose mit Pflanzen, der Mykorrhiza. Zur Erklärung ein kleiner Besserwisser-Einschub: Was man unter der Bezeichnung Pilze im Supermarkt findet, sind lediglich die Fruchtkörper, die zur Verbreitung der Sporen ausgebildet werden. Der eigentliche Pilz besteht aus einem Geflecht fadenförmiger Zellen, dem Mycel, das bei den mykorrhizabildenden Arten eine enge Verbindung mit Pflanzenwurzeln eingeht und dem gegenseitigen Austausch von Nährstoffen dient. ­Passionierte Sammlerinnen wissen, dass die Objekte ihrer Begierde häufig bestimmte Partner bevorzugen; nach Steinpilzen etwa sollte man unter Fichten und Buchen Ausschau halten.

Nicht nur die einzelnen Bäume profitieren von der Kooperation: Das schwammige Geflecht hilft dem Waldboden insgesamt, Wasser zu speichern, und sorgt für Stofftransport durchs gesamte System. Die Theorie von der Existenz eines regelrechten »Wood Wide Web«, über das Pflanzen nicht nur Nährstoffe, sondern auch ­Signale etwa über Schädlingsbefall austauschen sollen, ist allerdings wissenschaftlich umstritten.

Sicher ist, dass die Mykorrhiza für das Ökosystem Wald und damit dessen Rolle als Kohlenstoffspeicher unabdingbar ist. Forscher der Universität von Stirling in Schottland schlagen deshalb den Aufbau einer pilzorientierten Forstwirtschaft vor: Die Ernte von Speisepilzen könne einen Anreiz zur Aufforstung darstellen (man denke nur an Pfifferlinge oder die noch lukrativeren Trüffeln, die aufgrund ihrer Mykorrhiza-Symbiose ausschließlich wild wachsen, nicht in Gewächshäusern) und so einen Beitrag im Kampf gegen die Klimakrise leisten, argumentieren die Autoren einer im März veröffentlichten Studie. Demnach sind im Pilze die einzige Kategorie von Lebensmitteln mit einer negativen CO2-Bilanz, während die Produktion aller übrigen Nahrungsmittel Treibhausgasemissionen verursacht. Kurz gesagt: Das Veggieschnitzel aus dem Pilzforst hübscht nicht nur die individuelle Ökobilanz auf und beruhigt das Konsumgewissen, sondern hat tatsächlich einen systemischen Nutzen.

Das Londoner Biotech-Unternehmen Biohm produziert Dämmplatten, indem es in großem Maßstab Pilzgeflecht auf einem Substrat aus Lebensmittelabfällen und Sägespänen heranzüchtet, trocknet und zu ziegelartigen Platten presst.

Doch längst interessiert sich nicht mehr nur die Lebensmittelindustrie, sondern auch die Materialforschung für die Multitalente und hat auch schon einige marktreife Produkte hervorgebracht. In diesem Bereich findet vor allem das Mycel eine vielseitige Verwendung.

Lederimitat etwa gibt es mittlerweile nicht nur aus Kunststoffen, sondern auch hergestellt aus Pilzgeflecht. Üblicherweise werden die Fasern dafür lediglich gepresst und in Form gebracht; dieses Material ist allerdings weniger haltbar als die Konkurrenzprodukte auf Tierhaut- oder Erdölbasis.

Um dieses Problem zu ­lösen, hat das Unternehmen Mycoworks aus San Francisco ein Verfahren patentiert, das die Pilzfäden in dicht verflochtenen dreidimensionalen Strukturen wachsen lässt. Das »Reishi« genannte Produkt soll dem Hersteller zufolge ein vollwertiger Ersatz für tierisches Leder sein und wird beispielsweise zu Hüten, ­Taschen oder Geldbörsen verarbeitet. Diejenige der potentiellen Käufer sollte allerdings nicht zu schmal sein: Das Material wird bislang als Luxusprodukt vermarktet. Man hoffe aber, zukünftig durch Massenfertigung preisgünstiger produzieren zu können, erklärt die Mycoworks-Mitgründerin Sophia Wang.

Weniger Aufwand erfordert die Herstellung von Baustoffen aus Pilzen. So produziert etwa das Londoner Biotech-Unternehmen Biohm Dämmplatten, indem es in großem Maßstab Pilzgeflecht auf einem Substrat aus Lebensmittelabfällen und Sägespänen heranzüchtet, trocknet und zu ziegelartigen Platten presst. Biohm-Designchefin Oksana Bondar hebt im Gespräch mit der BBC die vielseitigen Recyclingmöglichkeiten des Materials hervor: »Es kann wiederaufbereitet werden, lässt sich zu Viehfutter zerkleinern oder problemlos kompostieren. Es ist pH-neutral und zu 100 Prozent natürlich. Man kann es als Dünger verwenden.« Man habe sich für die Produktion von Dämmstoff entschieden, weil die Bau­industrie zu den Sektoren mit dem größten Einfluss auf das planetare Ökosystem zähle.

Auf dem Bau könnten Pilzmaterialien in Zukunft vielleicht sogar den notorisch klimaschädlichen Beton ersetzen. Das Gebäudeforum Klimaneutral der Deutschen Energie-Agentur, das über klimafreundliches Bauen informiert, sieht eine Einsatzmöglichkeit des Biomaterials beispielsweise in nichttragenden Wänden, berichtet aber auch über Forschung an tragenden Elementen aus dem neuartigen Werkstoff. Die Auswahl an Produkten für einen serienmäßigen Einsatz sei allerdings noch »sehr eingeschränkt«, schreibt das Forum.

Aber das ließe sich ja ändern. Eine Sprecherin von Biohm erklärte jedenfalls, die Firma befinde sich derzeit in Verhandlungen mit großen multinationalen Unternehmen, um ihr Produkt weltweit zu vermarkten.

Die Welt retten werden Pilzsteak, Mycelleder und Dämmplatte ai funghi sicher nicht, zumindest nicht alleine. Aber sie stellen zumindest Beispiele für tatsächliche Technologieoffenheit dar, die besser in eine von Solarpunk inspirierte Zukunft passen würde als Wasserstoffautos und Fusionskraftwerke.