Zwischen Armenien und Aserbai­dschan erscheint Frieden eher möglich als noch vor kurzem

Paschinjans Verkehrswende

Zwischen Armenien und Aserbaidschan deutet sich eine Befriedung des jahrzehntelangen Konflikts an. Dazu beitragen könnten große Infrastrukturpläne für den Kaukasus – doch ob Armeniens Nachbarn mitmachen, ist fraglich.

Es soll ein Schritt hin zu einem Friedensabkommen sein: Armenien und Aserbaidschan haben sich auf den Austausch von Gefangenen geeinigt, um ihre »Beziehungen zu normalisieren«, teilten die Regierungen der seit Jahrzehnten verfeindeten Südkaukasusrepubliken am Freitag vergangener Woche in einer gemeinsamen Erklärung mit. Erst Ende September hatte Aserbaidschan das armenisch besiedelte Bergkarabach (auf Armenisch: Arzach) angegriffen und binnen eines Tages erobert. Mehr als 100.000 Einwohner waren daraufhin nach Armenien geflohen. Noch im November befürchtete der armenische Ministerpräsident Nikol Paschinjan, dass Aserbaidschans Prä­sident Ilham Alijew vorhabe, weitere Gebiete Armeniens zu erobern.

Dabei geht es vor allem um das Gebiet Sjunik, einst Sangesur genannt, die dünn besiedelte südlichste Provinz Armeniens, die an den Iran grenzt. In den Zeiten der Sowjetunion wurde Sangesur Armenien zugeschlagen und Bergkarabach Aserbaidschan, womit die Konflikte zwischen den beiden Ländern vorgezeichnet waren. Zwar gibt es in Sjunik keine große aserische Minderheit, aber dieser Landstreifen trennt die zu Aserbaidschan gehörende Autonome Repu­blik Nachitschewan vom Rest des Landes. In der Exklave Nachitschewan liegt der einzige Grenzübergang zwischen Aserbaidschan und der Türkei. Sjunik versperrt wie ein Riegel eine mögliche direkte Verkehrsroute von der Türkei über Nachitschewan in die aserbaidschanische Hauptstadt Baku am Kaspischen Meer und zu den anderen Turk­republiken Zentralasiens.

Diese Route ist die Traumstraße des Panturkismus. Nach dem Waffenstillstand 2020 forderte Alijew einen exterritorialen Korridor durch Sjunik nach Nachitschewan. Seit dem Beginn des Konflikts um Bergkarabach vor 30 Jahren sind viele Straßen und Eisenbahnlinien im Kaukasus entweder von Armenien oder von seinem Gegner Aserbaidschan und dessen Verbündeten Türkei stillgelegt worden.

Wie die Niederlage im Kampf um Bergkarabach gezeigt hat, ist Armenien trotz hoher Militär­ausgaben nicht mehr in der Lage, einen Konflikt mit Aserbaidschan für sich zu entscheiden.

Am 26. Oktober hatte Paschinjan bei einer internationalen Konferenz zur chinesischen Belt and Road Initiative im georgischen Tiflis sein eigenes Straßen- und Eisenbahnkonzept vorgestellt, die »Crossroads of Peace« (sinngemäß in etwa: Verkehrsverbindungen des Friedens). Die Initiative sieht den Ausbau von Routen in die Nachbarländer Armeniens vor, darunter Georgien, den Iran, die Türkei und Aserbaidschan – neue Straßen in einer Region, in der der letzte Waffengang nur drei Monate zurückliegt.

Von einer Öffnung der Verkehrswege könnten auch die angrenzenden Länder profitieren, scheint es auf den ersten Blick. Paschinjan denkt nicht nur an Personen- und Güterverkehr, sondern schließt Pipelines, Stromtrassen und Kabelverbindungen ein. So versucht er, möglichst viele Nachbarn in sein Projekt einzubinden. Gleichzeitig betont Paschinjan aber, dass die Staaten der Region die volle Souveränität über die Transportwege auf ihrem Territorium behalten sollen. Damit erteilt er der aserbaidschanischen Forderung nach einem exterritorialen Korridor durch Sjunik eine Absage.

Verbindungen durch Armenien, die großenteils nur die Instandsetzung von Transportwegen aus der Sowjetzeit erfordern, erscheinen attraktiv, sind es jedoch aufgrund des oft gebirgigen Geländes meist nicht so sehr, wie man annehmen möchte. Außerdem projektieren Nachbarn bereits Verbindungswege, die armenisches Territorium umgehen. Alijew möchte eine Autobahn durch iranisches Gebiet nach Nachitschewan bauen. Die Präsidenten Russlands und des Irans, Wladimir Putin und Ebrahim Raisi, haben im Mai ein Abkommen über eine Eisenbahnverbindung von der iranischen Hafenstadt Rasht am Kaspischen Meer über Baku bis ins russische Sankt Petersburg an der Ostsee unterzeichnet. Ein großer Teil der Strecke durch iranisches und aserbaidschanisches Gebiet müsste allerdings erst noch gebaut werden. Bereits gebaut ist die Pipeline Baku–Tiflis–Ceyhan, die Rohöl aus aserbaidschanischen und kasachischen Quellen über Georgien zum türkischen Mittelmeerhafen Ceyhan transportiert.

Es gibt Zweifel daran, ob Armeniens Nachbarn ein großes Interesse an den »Crossroads of Peace« haben. Das regionale Nachrichtenportal Jam News ­zitierte den armenischen Politologen Armen Baghdasaryan mit der Aussage, dass niemand außer Armenien dieses Projekt brauche. Georgien sei nicht interessiert, weil es so eine Monopolstellung im Ost-West-Handel verliere. Außerdem ließen sich die Expansionsgelüste Aserbaidschans nicht mit einer Straße befriedigen, das Land sei vielmehr auf ganz Sjunik aus.

Die Gefahr eines Angriffs Aserbaidschans ist noch nicht abschließend gebannt. Im Oktober hielten türkische und aserbaidschanische Truppen Manöver direkt an der armenischen Grenze ab. Das kleine und arme Armenien mit seinen 2,9 Millionen Einwohnern ist dem durch sein Öl reich gewordenen Aserbaidschan mit 10,3 Millionen Menschen deutlich unterlegen. Die aserbaidschanische Armee wurde mit Hilfe der Türkei und Israels aufgerüstet; Israel versprach sich davon, den Iran zu schwächen, in dem es eine große aserische Minderheit gibt. Wie die Nieder­lage in Bergkarabach gezeigt hat, ist Armenien trotz hoher Militärausgaben nicht mehr in der Lage, einen Konflikt mit Aserbaidschan für sich zu entscheiden.

Dass Alijew eine Straße durch den Iran nach Nachitschewan bauen will, muss nicht heißen, dass er das Inter­esse an Sjunik verloren hat. Für Armenien ist das Gebiet indessen wegen des Grenzübergangs zum Iran und einer Gaspipeline strategisch wichtig, da sonst die Abhängigkeit des Landes von Russland noch größer würde.

Während Paschinjan neue Wege öffnen will, wird der Weg nach Russland immer schwieriger. Im Oktober steckten 60 Wagen, die Brandy liefern sollten, aufgrund geänderter Grenzkontrollen für zwei Wochen an der Grenze zu Russland fest. Ende November durften Hunderte Lastwagen aus Armenien die Grenze nicht passieren, angeblich weil die Wetterbedingungen keine sichere Fahrt erlauben würden. Fahrer berichteten von bürokratischen Problemen bei der Abfertigung.

In Armenien wurde darüber spekuliert, ob die Probleme an der Grenze vielleicht damit zu tun hätten, dass Paschinjan kurz zuvor einer Sitzung der von Russland dominierten Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit (OVKS) in Minsk ferngeblieben ist. Der Mitgliedsstaat Armenien hatte Anfang des Jahres Militärmanöver des Militärbündnisses ehemaliger Sowjetrepubliken, darunter neben Russland auch Belarus, Kasachstan, Kirgistan und Tadschikistan, auf seinem Gebiet abgesagt.

Paschinjans Politik ist nicht unumstritten, sowohl was den raschen Rückzug aus Bergkarabach als auch was die Haltung zu Russland betrifft.

2021 und 2022 hatte Armenien die OVKS um Hilfe gebeten, weil aserbaidschanische Truppen auf armenisches Gebiet vorgedrungen waren. Doch die Organisation gab vor, die Grenze sei nicht festgelegt, daher falle der Konflikt auch nicht in die Verantwortung der OVKS. Paschinjan hat Russland auch vorgeworfen, Waffen nicht geliefert zu haben, obwohl sie bereits bezahlt waren. Angaben über den Umfang dieser Lieferung machte er nicht.

Die armenische Regierung teilte mit, sie wolle nicht aus der OVKS austreten wie 1999 Georgien, Aserbaidschan und Usbekistan. Weiterhin unterhält Russland auch einen Luftwaffenstützpunkt und zwei Kasernen in Armenien. Auf der anderen Seite hat am 3. Oktober das armenische Parlament für den Beitritt zum Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) gestimmt, obwohl Russland zuvor gewarnt hatte, dass dies als »ex­trem feindselig« gewertet würde. Der IStGH hat einen Haftbefehl für Putin ausgestellt, weil er verdächtigt wird, für die Verschleppung ukrainischer Kinder verantwortlich zu sein.

Putin grollt Armenien indessen auch aus einem anderen Grund. 2018 stürzte das immer autoritärer auftretende Regime des ehemaligen Präsidenten Sersch Sargsjan über Massenproteste in der sogenannten Samtenen Revo­lution. Die Ähnlichkeit zu den Maidan-Protesten ab Ende 2013 in der Ukraine war unübersehbar – so etwas gefällt Putin überhaupt nicht. Er wäre Paschinjan, der im Zuge der Revolution 2018 zum Ministerpräsidenten gewählt worden war, wahrscheinlich gerne wieder los. Das Zerwürfnis schadet dem russischen Einfluss im Kaukasus. Für Armenien, eingeklemmt zwischen den feindlichen Staaten Türkei und Aserbaidschan, wiederum ist die Abkehr von Russland gefährlich.

Paschinjans Politik ist nicht unumstritten, sowohl was den raschen Rückzug aus Bergkarabach als auch was die Haltung zu Russland betrifft. Der armenische Politikwissenschaftler Richard Kirakosian vom armenischen Think Tank Regional Studies Center warnt eindringlich davor, Russland zu provozieren: »Ein kleines Land sollte keine Fehler machen.« Die USA würden Arme­nien keine Waffen verkaufen. Paschinjan möchte Armenien von Russland unabhängig machen, doch ihm könnten dafür die Wege fehlen.