Der wachsende Widerwille, an die Verbrechen des Nationalsozialismus zu erinnern

Gegen die regressive Erinnerungskritik

Die Erinnerung an die Nazi-Verbrechen wird kritisiert, und zwar nicht nur seitens der AfD, sondern auch von Linken, die die »German guilt« als Hindernis ansehen, ihrem Israelhass zu frönen.

Der 27. Januar, an dem die Rote Armee 1945 das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau befreite, ist seit 1996 Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus.

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Das neue Jahr begann in Deutschland, wie das alte endete: mit antisemitischen Angriffen auf die Erinnerung. In Berlin-Mitte wurde in der Silvesternacht das Denkmal zur Erinnerung an die Kindertransporte und die Depor­tation von Kindern im Nationalsozialismus mit einer Zeichnung der al-Aqsa-Moschee beschmiert. Zwei Tage später bemalten Unbekannte in Coppenbrügge in Niedersachsen Stolpersteine mit schwarzer Farbe. In Leipzig wurde eine Gedenkstele zur Erinnerung an die Zerstörung der Geschäftsstelle des jüdischen Fußballclubs SK Bar Kochba während der Novemberpogrome von 1938 geschändet. Das sind keine Einzelfälle, sie fügen sich in eine ganze Reihe von Angriffen auf die Erinnerung.

»Erinnerungspolitischer Klimawandel«

Bereits im Sommer klagte Jens-Christian Wagner, der Leiter der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora, über tägliche Schmierereien und Sachbeschädigungen. Er sprach von einem »erinnerungspolitischen Klimawandel«: »Antisemitismus, Verschwörungslegenden, Reichsbürgerideologie« würden erstarken.

Nach dem brutalen Angriff der Terrororganisation Hamas auf Israel am 7. Oktober verschärfte sich die Situation noch einmal. Die Zahl antisemitischer Vorfälle ist seitdem sprunghaft gestiegen, zuletzt wurden zwei Hebräisch sprechende Personen in Berlin-Neukölln tätlich angegriffen.

«Free Palestine from german guilt» (Befreit Palästina vom Deutschen Schuldgefühl) steht auf einem Banner während der Demonstration «Solidarität mit Palästina» vor dem Auswärtigen Amt

Auch Künstler unter den Protestierenden. Vor dem Auswärtigen Amt, 17. November 2023

Bild:
picture alliance/dpa | Annette Riedl

Auch vermehrte Angriffe auf die Erinnerung gibt es. Im Oktober wurde in Saarbrücken ein Gedenkstein für die Opfer des Faschismus mit einer Palästina-Fahne bemalt. In Berlin riefen Demonstranten vor dem Auswärtigen Amt: »Free Palestine from German guilt!« Die Parole tauchte schon bei Protesten im Kontext der Kunstschau Documenta 15 auf. Im Januar dieses Jahres sprühte sie jemand an ein Gebäude der Frankfurter Goethe-Universität.

Björn Höcke forderte 2017 in Dresden eine »erinnerungspolitische Wende um 180 Grad«.

Die deutsche Rechte hat seit 1945 stets versucht, das Erinnern an die Shoah und die Verbrechen der Nazis zu bekämpfen. Der Widerstand gegen die Aufarbeitung der Nazi-Verbrechen und die Anerkennung deutscher Schuld war für die extreme Rechte identitätsbildend. Der AfD-Politiker Björn Höcke forderte 2017 in Dresden eine »erinnerungspolitische Wende um 180 Grad«. Mittlerweile spricht er von einem »singulären Zivilisationsbruch« und meint damit nicht etwa die Shoah, sondern die Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki durch die USA. Die AfD will das Gedenken an die Nazi-Verbrechen ersetzen durch ein Gedenken an deutsche Helden – um damit leichter wieder an jene Verbrechen anknüpfen zu können.

Die Correctiv-Recherchen über das Treffen hochrangiger AfD-Politiker mit Neonazis und finanzstarken Unternehmernern im November in Potsdam, um über die Deportation von im Endeffekt Millionen Menschen zu beraten, sorgten für Aufregung. Doch sollten solche Pläne niemanden überraschen, der die erklärten Absichten und die völkische Ideologie der AfD ernst nimmt. Der Kampf gegen die Erinnerung ist nicht nur Schuldabwehr, sondern dient der Vorbereitung neuer Verbrechen.

Schuldabwehr ist anschlussfähig

Seit dem 7. Oktober zeigt sich zudem deutlich, dass diese manifesten Angriffe auf die Erinnerung eben nicht allein aus dem rechten Lager kommen, sondern auch aus vermeintlich progressiven Kreisen. Schuldabwehr ist anschlussfähig. Auch das ist nicht völlig neu, doch so ernst war die Situation lange nicht mehr.

Alle Formen des Antisemitismus laufen auf die Forderungen nach einem Schlussstrich hinaus, weil die Erinnerung an die Shoah im Weg steht, wenn man gegen Jüdinnen und Juden hetzen und handeln will, egal wo sie leben. Und unabhängig davon, von wem der Antisemitismus ausgeht, gibt es immer jene, die ihn kleinreden oder leugnen. Besonders deutlich zeigt sich das in Hinblick auf den israelbezogenen Antisemitismus, der seit dem 7. Oktober in ungekanntem Maß um sich greift.

Obwohl Moses’ Behauptungen von namhaften Shoah-Forscherinnen und -Forschern als völlig unangemessen überführt wurden, war sein Vorhaben von einigem Erfolg gekrönt: Es war ein falscher Text zur richtigen Zeit.

Der israelbezogene Antisemitismus und seine Angriffe auf die Erinnerung werden seit Jahren akademisch gerechtfertigt. Der sogenannte Historikerstreit 2.0 entzündete sich folgerichtig zur Zeit der letzten großen antiisraelischen Massenmobilisierungen in Deutschland im Mai 2021 an einem Essay des Genozid-Forschers A. Dirk Moses. Seitdem behauptet Moses, die deutsche Erinnerungskultur werde von oben oktroyiert, »Hohepriester« würden die Befolgung des »Katechismus der Deutschen« überwachen und dabei palästinensische Positionen ausgrenzen und fälschlicherweise Antizionismus mit Antisemitismus gleichsetzen.

Moses’ damaliger Artikel verbindet bereits den Angriff auf die deutsche Erinnerungskultur mit der Verharmlosung des israelbezogenen Antisemitismus. Dafür wird die These von der Singularität der Shoah mit aller Kraft attackiert. Das Ziel ist klar: Der jüdische Staat soll endlich auch in Deutschland ungehemmt verleumdet und dämonisiert werden können. Obwohl Moses’ Behauptungen von namhaften Shoah-Forscherinnen und -Forschern als völlig unangemessen überführt wurden, war sein Vorhaben von einigem Erfolg gekrönt: Es war ein falscher Text zur richtigen Zeit. Die in den vergangenen Monaten populäre Parole »Free Palestine from German guilt« ist nichts anderes als die zugespitzte Fassung seiner Thesen und damit die Forderung nach der Beendigung des »Schuldkults« – dieses Mal von links.

Historisch falsche Kritik

Sicher ist Moses’ Text ein exzentrischer Tiefpunkt, in die Irre gehen aber auch abgeschwächte Variationen seiner Kritik, die beispielsweise von der Provinzialität der Holocaust-Forschung raunen oder die Erinnerungskultur mit Bausch und Bogen verdammen, weil sie von oben angeordnet werde oder reine Symbolpolitik sei. Solche Kritik ist historisch falsch, weil sie verkennt, dass das Erinnern überhaupt in Deutschland hart erkämpft wurde (und immer noch wird), oftmals von den Betroffenen der na­tionalsozialistischen Verbrechen selbst. Seit den achtziger Jahren wird dieses Erinnern außerdem mehr und mehr »von unten« betrieben, ob an kleinen Erinnerungsorten oder in großen Gedenkstätten. Und politisch ist die von Moses lediglich zugespitzte Kritik fatal, weil die Erinnerung von rechtsextremen Kreisen sowieso schon verfemt wird und nun die Kritik an ihr aus vermeintlich progressiven Kreisen diese Entwicklung auch noch bestärkt.

Gerade jetzt, nach dem 7. Oktober, muss »Nie wieder« heißen, sich solidarisch mit Jüdinnen und Juden weltweit zu zeigen – auch mit denen in Israel.

Daraus muss nicht folgen, sich dem deutschen »Erinnerungsweltmeistertum« anzudienen und die Wiedergutwerdung durch eine institutionalisierte Erinnerungskultur, bestehend aus Sonntagsreden und schönen Worten, kritiklos gutzuheißen. Die sogenannte Aufarbeitung der Vergangenheit muss kritisch begleitet werden, gerade in Zeiten, in denen historisches Wissen erodiert und ein Schlussstrich so laut wie lange nicht gefordert wird. Die Erinnerung an die Verbrechen des Nationalsozialismus darf sich nicht in Ritualen und symbolischen Gesten erschöpfen, geschweige denn für moralische Überhöhung über andere instrumentalisiert werden.

»Nie wieder« ist nicht irgendeine Phrase. Zeitigt dieser Imperativ keine politischen Konsequenzen, verkommt er zu einem reinen Akt der Selbstvergewisserung. Gerade jetzt, nach dem 7. Oktober, muss »Nie wieder« heißen, sich solidarisch mit Jüdinnen und Juden weltweit zu zeigen – auch mit denen in Israel.

Eine Linke in Deutschland, die Auschwitz nicht ins Zentrum ihres Nachdenkens über Geschichte und Gegenwart dieses Landes stellt, ist keine. In die Praxis übersetzt heißt das, die Vergangenheit genau zu erforschen und so die Erinnerung zu schärfen. Deshalb gilt es, konsequent mit allen zu brechen, die die Angriffe auf die Erinnerung vorbereiten oder verüben. Egal ob sie AfD wählen oder im Namen einer vermeintlich »legitimen Israelkritik« handeln.