Gibt einen Zusammenhang zwischen Kriminalität und Krise?

Weimarer Psycho

In den frühen zwanziger Jahren erschütterten Serienmorde die Weimarer Republik. In dichter Folge wurden die Taten Carl Großmanns, Karl Denkes und Fritz Haarmanns bekannt. Die Verbrechen wurden damals vor dem Hintergrund beunruhigender Tendenzen wahrgenommen: einem Anstieg der Mordrate in den Jahren 1921 bis 1924, einer Unterfinanzierung der Polizei, wachsender Armut in den Großstädten. Gibt es einen Zusammenhang zwischen Serienmorden und Demokratiekrise?

Als in den zwanziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts die Taten Carl Großmanns (über 20 Morde an Prostituierten und allein reisenden Frauen in Berlin-Friedrichshain), Karl Denkes (etwa 30 Morde an Landstreichern und Wanderarbeitern in Schlesien) und Fritz Haarmanns (mindestens 24 Morde an Obdachlosen und männlichen Prostituierten in Hannover) bekannt wurden, befand sich die deutsche Gesellschaft in ­einer schweren Krise. Alle drei Genannten hatten Dutzende junger Menschen getötet, Haarmann allerdings wurde der »populärste« dieser Täter – das Lied »Warte, warte nur ein Weilchen, bald kommt Haarmann auch zu dir« ist heute noch bekannt.

Das lag daran, dass sein Prozess vor dem Schwurgericht Hannover, der vor rund 100 Jahren stattfand, zu einem makabren Pressespektakel wurde. Die Berichterstattung wurde zum Vorläufer jenes morbiden Interesses an Serienkillern, das heutzutage zahllose Filme, Fernsehserien und Krimis bedienen und »kultivieren«.

Fritz Haarmann erschien als »Wohltäter für Obdachlose«

Im eng bebauten Hannoveraner Altstadtviertel Calenberger Neustadt und rund um den Hauptbahnhof war Haarmann eine ambivalente »graue Eminenz« gewesen. Der Kleinkriminelle hatte Unterschlagungen, Diebstähle, Einbrüche und Hehlereien auf dem Kerbholz, die zu zahlreichen Verurteilungen führten und ihn in den Spitzeldienst der Polizei lockten. Auch war er seit 1912 wegen sexueller Übergriffe auf Jungen aktenkundig. Die Wohnungen, vor allem in den Mansarden, waren oftmals nur käfigartige Holzverschläge. Viele Häuser verfielen und die Gegend geriet in der Nachkriegszeit mehr und mehr als »Verbrecherviertel« in Verruf. Haarmann lebte vom Handel mit Altkleidern und Fleischkon­serven.

In der Figur des »Monsters« Haarmann gipfelte das Krisen- und Katastrophenbewusstsein jener Jahre, der von Oswald Spengler prophezeite »Untergang des Abendlandes« schien in Sichtweite zu sein.

Ab 1918 wurden die Gartenanlagen um das Café Kröpcke zu einem Schwerpunkt männlicher Prostitu­tion – ein Areal, in dem Haarmann ebenfalls häufig anzutreffen war. Sein eigentliches Revier war aber die Wartehalle im Hauptbahnhof, in der er mit einem von ihm selbst ausgestellten, aber auf viele Menschen amtlich wirkenden Detekteiausweis patrouillierte. Die Wartehalle diente Obdachlosen, Arbeitslosen, unbegleiteten Kindern und Ausreißern als Zuflucht. Haarmann machte sich die verzweifelte Situation von Jugendlichen und jungen Männern zunutze und bot ihnen gegen sexuelle Gefälligkeiten Unterschlupf an.

So schaffte es Haarmann, in seinem Viertel als eine Art »besserer Herr« und »Wohltäter für Obdachlose« zu erscheinen; Jungen nannten ihn »Onkel Fritze« und Erwachsene respektvoll »Kriminal-Haarmann«. Seine Wohnung nahmen Zeugen als geselligen Ort von Ess- und Trink­gelagen wahr. Zugleich aber diente sie als Tatort, an dem Haarmann ­seine Sexpartner tötete und anschließend zerstückelte. Seine Opfer waren zehn bis 20 Jahre alt. Ihm kam dabei zugute, dass mittellos umher­reisende Jugendliche erst mit großer Verspätung von ihren Angehörigen als vermisst gemeldet wurden.

Gesellschaft und Staat befanden sich in der Krise

Die Serienmorde von Haarmann und Konsorten wurden damals vor dem Hintergrund beunruhigender Tendenzen wahrgenommen: einem (vorübergehenden) Anstieg der Mordrate in den Jahren 1921 bis 1924, ­einer Unterfinanzierung der Polizei, einer Zunahme der sichtbaren Pro­stitution und der Armut und Migration in den Großstädten. In der Figur des »Monsters« Haarmann gipfelte das Krisen- und Katastrophenbewusstsein jener Jahre, der von Oswald Spengler prophezeite »Untergang des Abendlandes« (der erste Band des so betitelten Werks war 1918, der zweite 1922 erschienen) schien in Sichtweite zu sein. Gesellschaft und Staat der Weimarer Republik befanden sich ohne Zweifel in der Krise, doch diese wurde auch dramatisiert und propagandistisch von Ex­tremisten bewirtschaftet.

Nazis und Monarchisten verstanden es, die erste deutsche Republik mit Inflation, Verarmung, Verbrechen und Chaos zu assoziieren, und sprachen später von der »Systemzeit«, die alles Schlechte der Moderne in sich vereint habe.

Das war vor rund 100 Jahren nicht anders als heute. Mangelnde Fahndungserfolge oder langjährige Untätigkeit der Ermittlungsbehörden konnten und können als Staatsversagen interpretiert und politisch aus­genutzt werden – in der Regel von rechtsextremen Kräften. So wurden und werden spektakuläre Verbrechen und steigende Kriminalitätsraten dem herrschenden politischen System angelastet. Nazis und Monarchisten verstanden es damals, die erste deutsche Republik mit Inflation, Verarmung, Verbrechen und Chaos zu assoziieren, und sprachen später von der »Systemzeit«, die alles Schlechte der Moderne in sich vereint habe.

Alkoholismus, Gangsterherrschaft und familiäre Gewalt schienen nach der Auflösung der UdSSR maßlos geworden zu sein

Dieses Muster ist in gewisser Weise zeitlos, wie der Vergleich mit dem Untergang der Sowjetunion und dem Russland der neunziger Jahre anzeigt. Auch Russland wurde damals von Serienmorden erschüttert. So tötete Aleksandr Spessiwzew unter Mithilfe seiner Mutter in der sibirischen Stadt Nowokusnezk zwischen 1991 und 1996 mindestens 19 Frauen. Der Polizist Michail Popkow ermordete zwischen 1992 und 2010 nachweislich 78 Menschen. Aber auch schon zuvor, bis 1990, fielen Andrej Tschikatilo mindestens 53 Menschen zum Opfer: Ausreißerinnen, Obdachlose und Prostituierte.

Die postsowjetische Gesellschaft war von diesen Untaten noch schockiert. Alkoholismus, Gangsterherrschaft und familiäre Gewalt schienen nach der Auflösung der UdSSR maßlos geworden zu sein, der neue demokratische Staat wirkte schwach, die Bevölkerung war schutzlos. Die Erinnerung an die Serienkiller wird in Russland bis heute mit der chaotischen Zeit der Präsidentschaft Boris Jelzins verbunden.

Sowohl in der Weimarer Republik als auch im Russland der Jelzin-Ära zeigte sich: Die Serienkiller kommen nicht mit dem gesellschaftlichen Zusammenbruch, sie sind schon vorher da.

Mittlerweile hat sich die Haltung dazu verändert: Nun dürfen auch Serienmörder auf Rehabilitation hoffen, wenn sie bereit sind, in den Krieg zu ziehen. So hat Präsident Putin den Wagner-Söldner Denis Gorin begnadigt, der mindestens vier Menschen ermordet und zum Teil gegessen hat, neun weitere Opfer werden vermutet. Auch der kannibalistische Vierfachmörder Nikolaj Ogolobjak kam nach seinem Front­einsatz frei.

Sowohl in der Weimarer Republik als auch im Russland der Jelzin-Ära zeigte sich: Die Serienkiller kommen nicht mit dem gesellschaftlichen Zusammenbruch, sie sind schon vorher da. Die Mordserien begannen oftmals lange vor dem politischen Systemwechsel, also noch in der ­stabil scheinenden »guten alten Zeit« des Kaiserreichs beziehungsweise der Sowjetunion. Die Täter suchten ihre Opfer stets gezielt unter den Schutzlosesten, den gesellschaftlich am schlechtesten Gestellten: mittel­lose junge Frauen, Prostituierte, Obdachlose. Alles Opfer, die – unabhängig vom jeweiligen politischen System – kein öffentliches und polizeiliches Interesse genießen und damit auch wenig Fahndungsdruck erzeugen.

Die Brutalisierung und rasche Verarmung der Gesellschaft infolge des Ersten Weltkriegs oder des Zusammenbruchs der Sowjetunion verstärken das Geschehen allenfalls – die schwindende soziale Kontrolle erleichtert den Tätern ihre Mord­serien. Und schließlich werden, nach einem neuerlichen, antidemokratischen Systemwechsel, die kriminelle Energie und Expertise der Serienkiller nicht etwa sanktioniert, sondern genutzt und honoriert: wie gegenwärtig im Krieg gegen die Ukraine, in dem auch »ganz normale Männer« auf dem Dienstweg Serienkiller werden durften und der Massenmord zur Staatsräson wurde.