Vor zehn Jahren begann nach dem Sturz Wiktor Janukowytschs Russlands Krieg gegen die Ukraine

Aufstand gegen die Konterrevolution

Vor zehn Jahren stürzte die Maidan-Protestbewegung den ukrainischen Präsidenten Wiktor Janukowytsch. Es lohnt sich, daran zu erinnern, dass der russische Krieg gegen die Ukraine als Reaktion auf diese Proteste begann.
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Der Sommer 2013 muss sich in Europa friedlich angefühlt haben. Die USA zogen Truppenkontingente aus Afghanistan ab und reduzierten auch in Europa die Zahl der stationierten Soldaten deutlich. In der EU erreichten die Militärausgaben 2014 einen historischen Tiefstand, denn nach der Finanzkrise war das Geld knapp. Wenige rechneten offenbar damit, dass die geplante Unterzeichnung eines EU-Assoziationsabkommens durch die Ukraine zu einem Krieg führen könnte.

Der Auslöser des Krieges lag in der Ukraine selbst: Der Sturz der Regierung Wiktor Janukowytschs vor zehn Jahren. Diese hatte auf wachsenden Druck aus dem Kreml hin versucht, sich um die Unterschrift unter den EU-Assoziationsvertrag zu drücken, was den Unmut vieler Ukrainer gegen ihn schürte und schließlich zu den Protesten auf dem Unabhängigkeitsplatz in Kiew führte. Nachdem Putins langjähriger Verbündeter Janukowytsch damit gescheitert war, die Maidan-Proteste mit Gewalt zu unterdrücken, floh er nach Russland. Die Vorbereitungen für die Annexion der Krim waren dort zu jenem Zeitpunkt längst getroffen.

Es handelte sich um eine spontane Protestbewegung gegen eine unbeliebte, extrem korrupte und immer autoritärer agierende Regierung.

Um die Maidan-Proteste ranken sich bis heute viele Propagandamythen und Verschwörungstheorien – erst kürzlich wiederholte der russische Präsident im Interview mit Tucker Carlson wieder einmal, es habe sich um einen von der CIA gesteuerten Putsch gehandelt; dabei schien Putin sich auch noch selbst zu glauben.

Es lohnt sich deshalb, daran zu erinnern, dass es sich um eine spontane Protestbewegung gegen eine unbeliebte, extrem korrupte und immer autoritärer agierende Regierung handelte, welche spätestens mit Beginn der Proteste immer mehr dazu neigte, sich mit Unterstützung Russlands um jeden Preis an der Macht zu halten. Erst vor diesem Hintergrund gewann der Konflikt um die Unterzeichnung des Assoziationsabkommen mit der EU, beziehungsweise den Beitritt zur von Russland dominierten Eurasischen Wirtschaftsunion, so eine dramatische Bedeutung.

Gleichzeitig werden die Maidan-Proteste oft auch verklärt. Es handelte es sich um eine nationale politische Bewegung, die zwar im Westen der Ukraine deutlich mehr Anhänger hatte, aber dennoch alle Landesteile erfasste. Doch selbst kurz vor Janukowytschs Sturz zeigten Umfragen andererseits, dass große Teile der Bevölkerung den Maidan ablehnten. Das hatte nicht nur mit Anti-Maidan-Propaganda, sondern auch mit handfesten unterschiedlichen Interessen zu tun. Beispielsweise hatten in der Schwerindustrie Beschäftigte gute Gründe, die Anbindung an den EU-Markt skeptisch zu sehen.

Mit Verweis auf die große Rolle von Selbstorganisation im Maidan-Camp auf dem Unabhängigkeitsplatz in Kiew wird oft betont, was für ein Triumph für die Demokratie der Maidan gewesen sei. Anders betrachtet war er eher Ausdruck der Schwäche der bürgerlichen Demokratie in der postsowjetischen Ukraine.

Die politische Unorganisiertheit der Bewegung war auch ein Grund dafür, dass sie mit ihrem Anspruch, die ukrainische Gesellschaft von Grund auf zu demokratisieren, scheiterte.

Es gab zwar auf dem Maidan politische Anführer der Opposition wie den heutigen Bürgermeister Kiews, Vitali Klitschko, aber keine demokratischen Parteien mit einer großen Massenbasis, die die Proteste hätten anführen können. Das Ergebnis war eine oft diffuse inhaltliche Unbestimmtheit, in der vage demokratische, liberale oder nationalistische Slogans koexistierten. Auch zu Streiks gegen die Regierung wurde zwar aufgerufen, aber ohne Ergebnis – die Gewerkschaften verhielten sich passiv.

In diese organisatorische und ideologische Lücke stießen Nationalisten und Rechtsextreme vor. Sie machten nur eine kleine Minderheit unter den Demonstranten aus, aber anders als deren Mehrheit hatten sie klare politische Vorstellungen und waren organisiert. Das wurde noch ausgeprägter, als die Gewalt bei den Protesten und damit die Rolle von oft paramilitärisch organisierten, teilweise rechtsextremen oder schlicht kriminellen Gruppen zunahm. Das ist ein fatales Erbe der Maidan-Bewegung, das bis heute fortwirkt.

Die politische Unorganisiertheit der Bewegung war auch ein Grund dafür, dass sie mit ihrem Anspruch, die ukrainische Gesellschaft von Grund auf zu demokratisieren, scheiterte – die Machthaber nach 2014 ähnelten in vielerlei Hinsicht den oligarchischen Führungsschichten der Jahre davor. 2015 schrieb Mikhail Minakov, einer der bedeutendsten liberalen Intellektuellen der Ukraine: »Die Bedeutung des Euromaidans für die ukrainische Gesellschaft liegt heute in seinen Zielen – die Republik wiederherzustellen, die Herrschaft des Rechts in der Wirtschaft und Politik zu etablieren und durch die Partnerschaft mit der Europäischen Union, einem wirksamen Demokratisierungsmechanismus, die Kontrolle über die eigenen Eliten herzustellen.« Dieser Anspruch, so Minakov, sei bisher nicht eingelöst worden.

Janukowytsch konnte gestürzt werden, weil große Teile seiner politischen Unterstützer und die Verantwortlichen in Polizei und Militär ihm die Gefolgschaft verweigerten.

Die »Revolution der Würde«, wie sie später getauft wurde, war also keine Revolution, keine Umwälzung der Verhältnisse. Wohl aber verhinderte sie in gewisser Weise eine Konterrevolution: die Abschaffung der Republik und ihre Verwandlung in einen autoritären Staat.

Die wirklich große Mobilisierung der Bevölkerung während der Proteste – Hunderttausende Menschen, die in Kiew, aber auch in anderen Städten auf die Straße gingen –, war meist eine Reaktion auf die gewaltsamen Mittel, mit denen die Regierung gegen die Demonstranten vorging, sie war also Ergebnis der Empörung über autoritäre Maßnahmen. Später, im Januar 2014, war es die Verabschiedung drakonischer Gesetze gegen politischen Protest, der sogenannten »Diktaturgesetze«, die den bereits erlahmten Maidan-Protesten neue Energie gaben und sie radikalisierten.

Janukowytsch konnte gestürzt werden, weil große Teile seiner politischen Unterstützer und die Verantwortlichen in Polizei und Militär ihm die Gefolgschaft verweigerten. Genau so ein Szenario will die russische Regierung im eigenen Land um jeden Preis verhindern, weshalb Wladimir Putin seine autokratische Herrschaft seitdem immer mehr gefestigt hat. Und auch die Kontrolle, die Russland über die Ukraine anstrebt, würde bedeuten, dass sich so etwas wie die Maidan-Proteste nie wiederholen könnte. Das ist das Ziel des russischen Krieges.