Namhafte Reformpädagogen der Nachkriegszeit haben Jugendliche und Kinder sexuell missbraucht

Abgründe der Reformpädagogik

Ein bundesweites Netzwerk aus Sozialpädagogen, Behörden und Wis­sen­schaftlern hat seit den sechziger Jahren sexuellen Missbrauch in der Jugendhilfe organisiert oder gebilligt. Ein Bericht der Universität Hildes­heim erhebt schwere Vorwürfe gegen die wichtigsten Vertreter der Reformpädagogik der Nachkriegszeit.

Seit knapp neun Jahren ruft die Auf­arbeitung des sogenannten »Kentler-Experiments« Entsetzen hervor. Der 2008 verstorbene Psychologe und Sexualpädagoge Helmut Kentler war eine der führenden Figuren in der Sexualaufklärung und Reformpädagogik ab den sechziger Jahren. Er befürwortete und rechtfertigte jahrzehntelang sexuelle Beziehungen zwischen Minderjährigen und Erwachsenen. Von Ende der sechziger Jahre bis in die nuller Jahre ermöglichte er diese auch praktisch im Rahmen der von ihm konzipierten Unterbringung von Kindern und Jugend­lichen bei vorbestraften pädosexuellen Männern in Berlin, dem sogenannten »Kentler-Experiment«.

Je mehr über diese Machenschaften bekannt wird, umso fassungsloser bleiben Wissenschaft und Öffentlichkeit zurück. Mittlerweile ist bekannt, dass Kentler auch selbst sexuell übergriffig gegen von ihm betreute Kinder und Jugendliche geworden ist. Außerdem ­unterstützte ihn nicht nur die Berliner Senatsverwaltung in Gestalt des Landesjugendamtes. Es gab vielmehr ein größeres Netzwerk als bisher angenommen, das bundesweit sexuelle Kontakte zwischen Erwachsenen und den in Pflegestellen oder Wohngruppen ­betreuten Jugendlichen und Kindern begünstigt und teils organisiert hat.

Der Bericht kritisiert die »Glorifizierung von den v. a. männlichen Sozialpädagogen bzw. Wissenschaftlern der Heimreform«.

Bekannt wurde das vor allem, weil sich in den vergangenen Jahren Betroffene bei den Aufarbeitungsprojekten des erziehungswissenschaftlichen Instituts der Universität Hildesheim gemeldet haben. Eine Forschungsgruppe um die Erziehungswissenschaftlerin Meike Sophia Baader hat nun erneut einen Bericht über Kentlers Wirken in der Berliner Kinder- und Jugendhilfe veröffentlicht. Die Autoren sprechen darin davon, dass es eine Entgrenzung des sogenannten Experiments gegeben habe, und ziehen den Schluss, »dass der bisherige Fokus auf die Person Helmut Kentler, auf die Pflegekinderhilfe, auf Berlin und auf die Zeit der 1960er und 1970er Jahre zu eng ist«. Es lasse sich vielmehr ein breiteres Netzwerk rekonstruieren, »das die Positionen Helmut Kentlers geduldet, legitimiert, rezipiert und unterstützt hat – und es bis in die Gegenwart tut«. Dieses umfasse neben Reformpädagogen auch ­Jugendamtsmitarbeiter und Sozialarbeiter.

Im Mittelpunkt der Untersuchung stehen Interviews mit Personen, die in reformorientierten Jugendhilfemaßnahmen sexuelle Gewalt ­erlitten haben. Sie berichten von sexuellen Übergriffen und Grenzverletzungen in verschiedenen Einrichtungen der Jugendhilfe oder der evangelischen Kirche, auch durch namhafte Pädagogen. Neben Interviews mit Betroffenen und Zeitzeugen analysierten die Forscher Akten von Jugendämtern. Auch dabei geraten spezifische Standorte, Jugendhilfeeinrichtungen und renommierte Pädagogen in den Blick. Bis dato sei laut dem Forschungsteam belegt, »dass Gerold Becker, Herbert E. Colla und Helmut Kentler sexualisierte Gewalt ausgeübt haben und Martin Bonhoeffer, Hartmut von Hentig, Axel Schildhauer, Hans Thiersch, Peter Widemann und Anne Frommann als ›Bystander‹ bezeichnet werden können, die entweder von sexualisierten Übergriffen Kenntnis hatten oder über Wissen verfügten, dass es zu sexualisierten Übergriffen gekommen ist, dieses aber nicht problematisierten«.

Gerold Becker leitete bis 1985 die ­reformpädagogisch orientierte Odenwaldschule in Hessen, Herbert E. Colla war bis zu seiner Emeritierung im Jahr 2009 Professor für Sozialpädagogik in Lüneburg. Die genannten Täter und Mitwisser zählen zu den Hauptvertretern reformpädagogischer Ansätze in der Bundes­republik. Ihre laut Forschungsbericht nachweisliche Beteiligung an einem Netzwerk, das sexuelle Übergriffe ausführte, ermöglichte oder billigte, dürfte die Erziehungswissenschaft in weiteren Aufruhr versetzen.

Baader und ihre Kollegen weisen auf Institutionen in sechs Städten hin: ­Kinderheime, Pflegestellen und das Landesjugendamt in West-Berlin, das ­pädagogische Seminar und mehrere Reformprojekte in Göttingen, die Einrichtung der sozialtherapeutischen Wohngruppen in Tübingen, Sonderpflegestellen in Lüneburg, die Odenwaldschule in Heppenheim sowie die Infrastruktur von Hochschule, Jugendhilfe und Jugendamt in Hannover. Netzwerkcharakter erhielten die genannten Institutionen demnach vor allem durch die beruflichen und akademischen Verknüpfungen zu und zwischen Kentler, Becker, Colla und Bonhoeffer, die neben ihren Positionen an Hochschulen oder erziehungswissenschaftlichen Instituten mit den pädagogischen Einrichtungen verbunden waren.

Sie waren nicht nur Kollegen, sondern pflegten auch privat Freundschaften untereinander. Der Aufarbeitungsbericht zeigt anhand von sechs fallbezogenen Jugendamtsakten, wie sie dafür sorgten, dass einzelne männliche Jugendliche jeweils gezielt in den Wohngruppen, (Sonder-)Pflegestellen, Schulen und auch Privathaushalten der genannten Pädagogen untergebracht wurden.

Der Bericht zeigt damit, wie weitreichend der Einfluss von einzelnen Pädagogen auf die Jugendhilfe war. Auch die eklatante Vermischung von Beruflichem und Privaten muss irritieren. ­Einen Verweis auf das berufliche Selbstverständnis, das vom heute üblichen stark abwich, und die dem damaligen Zeitgeist geschuldete pädagogische Grundhaltung im alternativen Milieu lassen die Autoren des Aufarbeitungsberichts allerdings in keiner Form gelten. Jedwede Argumentation, die die geschilderten Geschehnisse historisieren, auf Einzelfälle reduzieren oder die Verantwortung für sie anderen pädagogischen Feldern als der Reform­pädagogik zuschieben will, weisen sie als verschleiernd und bagatellisierend zurück.

Kritisiert wird dabei auch die »Glorifizierung von den v. a. männlichen ­Sozialpädagogen bzw. Wissenschaftlern der Heimreform«. Ohne die Reform­pädagogik im Ganzen diskreditieren zu wollen, macht der Forschungsbericht die Verantwortlichen, Theorien und Denkweisen in reformpädagogisch orientierten Unterbringungsprojekten als das hauptsächliche Problem aus.

Aufgrund der Schwere der Vergehen fordern die Autoren Konsequenzen für die Gegenwart.

Damit stellt der Bericht die bislang übliche Darstellung der Geschichte der Pädagogik in Frage, der zufolge einer autoritären und gewalttätigen Heimerziehung der Nachkriegszeit die progressiven, beziehungsnahen reformpädagogischen Heimprojekte gefolgt seien. Es liege der Schluss nahe, »dass die Geschichte der Heimreform von einem Netzwerk von Wissenschaftlern positionsstark seit den 1970er Jahren mitgeschrieben wurde, die wissenschaftlich und persönlich mit Personen zusammengearbeitet haben, die sexualisierte Übergriffe an Kindern legitimiert, ­geduldet oder selbst ausgeübt haben«.

Den genannten Protagonisten der Heimreform und ihren Unterstützern werfen die Autoren vor, die Machtverhältnisse in pädagogischen Beziehungen nicht ausreichend reflektiert zu haben. Die in der Reformpädagogik im Zusammenhang mit dem Konzept des pädagogischen Eros entwickelten Vorschläge für einen nahen und fürsorg­lichen Kontakt zwischen Pädagogen und Kindern und Jugendlichen hätten fatale Folgen gezeitigt. Das Risiko von Grenzverletzungen sei vernachlässigt und systematisch ausgeklammert, sexuelle Übergriffe begünstigt, gerechtfertigt oder ignoriert worden. Mechanismen der Kontrolle wurden ausgeschaltet, die Pflegejugendlichen abgeschottet sowie Zuständigkeiten von Jugendamt, Jugendhilfe und Wissenschaft verwischt und übergangen.

Aufgrund der Schwere der Vergehen fordern die Autoren Konsequenzen für die Gegenwart. Sie fordern beispielsweise, ein »Recht auf Aufarbeitung« ins Sozialgesetzbuch aufzunehmen. Um derartige Taten aufzuarbeiten, müssten pädagogische, sozialstaatliche und akademische Institutionen verpflichtet werden können, relevante Informationen zur Verfügung zu stellen, ihre Verantwortung selbst zu untersuchen und den Betroffenen von Missbrauch rechtliche Vertretung, Beratung und Ressourcen zur Selbstorganisation zur Verfügung zu stellen. Selbst für Verlage und Publikationsorgane müsse das gelten. Es gehe nicht nur darum, »welche Personen (aus dem Netzwerk) in der Vergangenheit welche Artikel und Beiträge veröffentlicht haben«, sondern auch darum »zu reflektieren, wer gegenwärtig welche Inhalte in Zeitschriften veröffentlicht«. Als abgeschlossen kann die Aufarbeitung also noch lange nicht gelten.