In der israelischen Notstandsregierung wird über einen Untersuchungsausschuss gestritten

Konflikte im Kabinett

Eine neu eingesetzte Kommission, die untersuchen soll, wie es dazu kommen konnte, dass Israel von der Hamas-Invasion am 7. Oktober überrascht wurde, legt Spannungen zwischen den Rechten und den moderaten Kräften innerhalb der Notstandsregierung offen.

Jerusalem. Nach einer hitzigen Kabinettssitzung am Donnerstag vergangener Woche sprechen mehrere Minister von einem möglicherweise kurz bevorstehenden Zusammenbruch der israelischen Regierungskoalition, wie der israelische Fernsehsender Kan 11 berichtet. Eines der namentlich nicht genannten Regierungsmitglieder sagte dem Reporter Yoav Krakowski: »2024 wird ein Wahljahr.«

In der Sitzung kritisierten mehrere Regierungsmitglieder Israels Generalstabschef Herzi Halevi dafür, dass er eine militärische Untersuchungskommission einberufen hat, die klären soll, wie es der Terrororganisation Hamas gelingen konnte, am 7. Oktober nach Israel einzudringen, über 1.200 Menschen zu ermorden und Hunderte als Geiseln in den Gaza-Streifen zu verschleppen, was der Auslöser des andauernden Kriegs zwischen Israel und der Hamas war.

Kommentare in den israelischen Medien unterstellen den Kritikern Halevis, den Untersuchungsausschuss nur deswegen abzulehnen, weil sie Angst haben, durch dessen Ergebnisse belastet zu werden. Ministerpräsident Benjamin Netanyahu beteiligte sich nicht an der Debatte in der Kabinettssitzung, sagte dem Stabschef an deren Ende ­allerdings, dass er sich die Kritik der Minister anhören müsse und die Debatte ein anderes Mal fortgeführt werde.

Der Minister ohne Geschäftsbereich und ehemalige Generalstabschef sowie Verteidigungsminister Benjamin Gantz vom Parteienbündnis HaMahane HaMamlachti (Nationale Einheit) kritisierte die Vorgänge in der Kabinettssitzung am darauffolgenden Tag in einer Videobotschaft als »politisch motivierten Angriff« auf den Oberkommandeur der Streitkräfte, »während sich das Land in der intensivsten Phase des Kriegs befindet«. Weiter sagte er: »Die Verantwortung dafür trägt der Ministerpräsident. An ihm liegt es, das zu korrigieren, sich zwischen Einigkeit und Sicherheit oder Machtpolitik zu entscheiden.«

Die USA fordern, dass die Palästinensische Autonomie­behörde reformiert werden und eine zentrale Rolle bei der zukünftigen Verwaltung des Gaza-Streifens spielen soll.

Israelische Medien legen das als Drohung von Gantz aus, das Kriegskabinett und die Regierungskoalition zu verlassen. Sein Parteienbündnis gehörte vor dem Hamas-Massaker der Opposition an und bildet seit dem 11. Oktober mit Netanyahus umstrittener rechter Koalition eine Notstandsregierung, um der politischen Führung des Landes in Kriegszeiten eine breitere gesellschaftliche Basis zu geben.

Die Kritiker des Untersuchungsausschusses behaupten, dessen Nachforschungen störten die Kriegsführung, und stoßen sich daran, dass Shaul Mofaz das Gremium leiten soll, der noch vor Gantz Generalstabschef und Verteidigungsminister war. Mofaz stehe für eine gescheiterte Politik, die es zu ändern gelte. Dagegen sagt Halevi, das Gremium solle lediglich operative militärische Vorgänge untersuchen, um daraus Schlussfolgerungen zu ziehen, die auch für die laufenden Kampfhandlungen relevant sind. Die geplanten Untersuchungen seien rein technischer Natur und nicht dazu bestimmt, zu »politischen Schlussfolgerungen« zu gelangen. »Ich mache nur, was ich muss, um aus Fehlern zu lernen«, so Halevi.

In einem Kommentar in der Tageszeitung Yedioth Ahronoth schreibt der Reporter Ron Ben-Yishai, dass der militärische Untersuchungsausschuss »eine Gefahr für die derzeitige Regierung« darstelle, weil er deren Fehler aufzudecken drohe, die zu den Ereignissen vom 7. Oktober führten. Ben-Yishai hebt hervor, dass Netanyahus Politik bis dahin darauf abzielte, das Regime der Hamas im Gaza-Streifen zu stabilisieren, um dessen Trennung von der Palästinensischen Autonomiebehörde (PA) in der Westbank zu zementieren, die von der mit der Hamas konkurrierenden Fatah-Partei geführt wird. Dabei sei Netanyahu davon ausgegangen, dass die Hamas durch vergangene Militäroperationen abgeschreckt sei und keinen größeren ­Angriff auf Israel wagen werde – was sich als Fehler herausstellte.

Angeführt wurde die Verbalattacke gegen Halevi von Transportministerin Miri Regev und dem Minister für Regionale Zusammenarbeit, Dudi Amsalem. Beide gehören der nationalkonservativen Regierungspartei Likud von Netanyahu an und gelten als loyale Unterstützer des Ministerpräsidenten und Parteivorsitzenden. Zu den weiteren Kritikern des Untersuchungsgremiums gehören die Rechtsnationalisten vom Parteienbündnis HaTzionut HaDatit (Der Religiöse Zionismus), Sicherheitsminister Itamar Ben-Gvir und Finanzminister Bezalel Smotrich. Die hätten, schreibt Ben-Yishai weiter, kurz vor dem 7. Oktober erfolgreich darauf gedrungen, Truppen der israelischen Armee aus dem Süden des Landes, den die Hamas an diesem Tag aus dem Gaza-Streifen kommend infiltrierte, in die Westbank zu verlegen. Nun wollten sie vermeiden, dass diese Fehlentscheidung öffentlich diskutiert werde.

Ähnlich sieht das auch der Leiter des Auslandsressorts von Kan 11, Moav Vardi: »Wenn die Minister den Generalstabschef attackieren, dann tun sie das nur aus einem Grund: um sicherzustellen, dass ihnen und Netanyahu keine Schuld an den Versäumnissen gegeben wird. Ja, natürlich sind die Entscheidungsträger der Armee verantwortlich für das, was am 7. Oktober geschah. Aber sie haben ihre Verantwortung auch anerkannt. Der Einzige, der das bis heute nicht getan hat, ist der Regierungschef.«

Der Kan-11-Reporter Suleiman Maswadeh zitiert »hochrangige Regierungsminister«, die ihm gesagt hätten, Netanyahu und die Likud-Minister konstruierten ein Narrativ, welches ausschließlich den Sicherheitsapparat für die Ereignisse vom 7. Oktober verantwortlich mache und die Regierung von jeder Mitverantwortung freispreche. Yair Lapid, Oppositionsführer von der liberalen Partei Yesh Atid (Es gibt eine Zukunft) und ehemaliger Ministerpräsident, schrieb nach der Kabinettssitzung auf dem Microblogging-Dienst X: »Während des Kriegs greifen Minister den Stabschef an und versuchen, ihn zu demütigen. Und der Ministerpräsident stellt sich nicht dagegen. Das ist kein Kabinett, sondern eine nationale Katastrophe. Israel braucht eine neue Regierung und einen neuen Ministerpräsidenten.«

Ben-Yishai ist der Ansicht, dass Netan­yahu die Kabinettsdebatte über den Untersuchungsausschuss auch nutzt, um einer Diskussion über Perspektiven für die Zukunft des Gaza-Streifens nach dem Krieg aus dem Weg zu gehen, die eigentlich der Haupttagesordnungspunkt der Sitzung hätte sein sollen. Forderungen von Vertretern des Militärs und der Geheimdienste, Szenarien für die Zukunft des palästinensischen Küstenstreifens zu besprechen, hatte Netanyahu im Lauf des vergangenen Monats mehrfach abgelehnt, wie der israelische Fernsehsender Keshet 12 berichtete. Unterschiedliche Vorstellungen zu der Frage bergen einen Konflikt zwischen moderaten und rechtsnationalistischen Kräften in Netanyahus Regierungskoalition.

In einem Radiointerview mit dem Armeesender Galei Tzahal forderte Smotrich Ende Dezember indirekt eine Vertreibung der Palästinenser aus dem Gaza-Streifen. Dem Moderator Yanir Cozin sagte er: »Wenn man strategisch das Richtige macht, was man in Gaza machen muss, dann wird es von dort eine Auswanderung geben. Wir dürfen keine Bedingungen schaffen, die dazu führen, dass dort zwei Millionen Menschen bleiben, die den Staat Israel ­vernichten wollen. Wenn es in Gaza 100.000 oder 200.000 Araber und keine zwei Millionen Araber geben wird, wird die ganze Debatte über den Tag danach anders geführt werden.«

»Netanyahu muss sich entscheiden, ob er das Land oder die Koalition retten will.« Der ehemalige Armeesprecher Avi Benayahu

Den USA sicherte die israelische Regierung zu, dass eine Vertreibung der Palästinenser aus dem Gaza-Streifen nicht in Frage komme, wie Keshet 12 Anfang des Monats berichtete. Tatsächlich arbeiten mit Ron Dermer, Minister für strategische Angelegenheiten, und dem Nationalen Sicherheitsberater Tzachi Hanegbi zwei moderate Mitglieder der Netanyahu-Regierung an konkreten Plänen für den Gaza-Streifen. Sie sehen Cozin zufolge vor, dass es dort eine palästinensische Zivilverwaltung geben soll. Doch genau das führt zu Spannungen zwischen den Rechten und den moderaten Kräften innerhalb der Regierungskoalition.

Ein weiterer Konfliktpunkt innerhalb der Regierung ist, dass Smotrich sich weigert, von Israel eingezogene palästinensische Steuergelder an die Palästinensische Autonomiebehörde (PA) in Ramallah zu überweisen. Smotrich sagt, er wolle verhindern, dass diese Mittel in den Gaza-Streifen transferiert werden, um Terror zu finanzieren. Nach Berichten der Internetzeitung Times of Israel hatte Smotrich seinen Rücktritt angedroht, sollte eine Überweisung der Gelder beschlossen werden. Moderate Stimmen in Israel und die USA befürchten hingegen einen Zusammenbruch der PA, wenn die Gelder zurückgehalten werden. Die USA fordern, dass die PA reformiert werden und dann eine zentrale Rolle bei der zukünftigen Verwaltung des Gaza-Streifens spielen soll. Netanyahu hat sich wiederholt dagegen ausgesprochen.

US-Präsident Joe Biden hat Netanyahu dafür kritisiert, dass er nicht bereit sei, den Rechtsextremen in seiner Regierungskoalition offener zu widersprechen und den politischen Preis dafür zu zahlen, wie der Journalist Yoav Limor von Keshet 12 Ende Dezember berichtete. In der gleichen Sendung kritisierte auch der ehemalige Armeesprecher Avi Benayahu, dass Netanyahu die Unterstützung der US-Amerikaner riskiere, um die Rechtsradikalen in der Regierung zu halten. »Netanyahu muss sich entscheiden, ob er das Land oder die Koalition retten will«, sagte Benayahu.