Dienstag, 16.04.2024 / 16:52 Uhr

Das Ende der RAF oder - Wo ist der Antiimperialismus, wenn man ihn braucht?

Von
Gastbeitrag von Philipp Thiée

Bildquelle: X (Vorm. Twitter)

Der Weg in die Hölle ist bekanntermaßen mit guten Absichten gepflastert. Und solche gute Absichten können manchmal einen sogar nicht nur in die Hölle, sondern dahin führen, wo man eigentlich den Feind verortete, den man zu bekämpfen gedachte. Aber im andauernden Kreisen um sich selbst wird dies nicht einmal bemerkt.

Ein Beispiel wie so etwas passieren kann, ist die Geschichte des „bewaffneten Kampfes“ der Linken in der BRD. Ein allgemeines Phänomen in den postfaschistischen Ländern Westeuropas.

Bis in die 1990er war es nicht nur die Rote Armee Fraktion (RAF), die meinte, dass man als Teil einer weltumspannenden Front für Befreiung gegen den Imperialismus antreten würde. So trugen auch die Revolutionären Zellen (RZ) ihren Teil bei. RAF und RZ suchten Unterstützung bei Palästinensischen Gruppen und zugleich legitimierten sie ihre illegalen Aktionen und Morde mit Unterstützung des Freiheitskampfes gegen israelische Siedler, die wiederum nur als Vorposten der imperialistischen USA gesehen wurden.

Das Wissen um das, was wirklich 1.500 Kilometer von der BRD entfernt passierte, blieb letztlich oberflächlich. Die Fragen wer will was von wem und warum an die Akteure vor Ort erschien beantwortet, bevor sie gestellt wurden, da ja alle ein Teil der großen Front gegen das Übel des Imperialismus bildeten.

Als bei der Olympiade in München 1972 israelische Sportler von einem palästinensischen Kommando ermordet wurden, schrieb die RAF dazu:

Die Aktion des »Schwarzen September« in München hat das Wesen imperialistischer Herrschaft und des antiimperialistischen Kampfes auf eine Weise durchschaubar und erkennbar gemacht wie noch keine revolutionäre Aktion in Westdeutschland und Westberlin. Sie war gleichzeitig antiimperialistisch, antifaschistisch und internationalistisch. Sie hat eine Sensibilität für historische und politische Zusammenhänge dokumentiert“

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Die israelischen Opfer von München, Bildquelle: Enjott

Dann folgte ein wilder Ritt durch ein best of des Imperialismus über Pipelines, Kanada, Santiago de Chile und Verkehrstote bis man zu dem Thema kam an dem man am längsten verweilte: „Negt – das Schwein“!

Oskar Negt war damals Professor für Soziologie an der TU Hannover und hatte, wie die RAF überzeugend darlegt, am 3. Juni 1972 in Frankfurt einen sehr bescheidenen Vortrag gehalten. Palästina oder israelischer Sport kamen in diesem allerdings nicht vor.

Zwei Mitglieder der RZ beteiligten sich dann 1976 mit Palästinensern der PFLP an der Entführung einer Maschine der Air France von Tel Aviv nach Uganda. Dort sonderte ein 27 jähriges Mitglied der RZ, Wilfried Böse, die jüdischen Passagiere von den anderen Geiseln ab. Nichtjuden wurden freigelassen. Kurz darauf wurden alle Geiseln in einer 90 minütigen Kommandoaktion Israels befreit. Diese Aktion leitete Jonathan Netanjahu – Benjamins Bruder – und starb dabei auch. Auch Wilfried überlebte nicht. Ebenfalls 200 Kenianer überlebten die nächsten Tage nicht. Sie wurden auf Befehl Idi Amins, dem damaligen Präsidenten von Uganda, getötet, weil Kenia Israels Aktion unterstützte.

Playboy Helmut Berger übernahm die Rolle des Wilfried in der Verfilmung der ganzen Sache: „Unternehmen Entebbe“. Später spielten ihn auch der seinen Irrsinn kultivierende Klaus Kinski und der in der Reihe etwas blasse Daniel Brühl.

Bombe im Kino

Nun kommt die für das hier am Anfang aufgeworfene Spannungsfeld interessanteste Person ins Spiel: Gerd Albartus. Am 04. Januar 1977 legte er als Mitglied der RZ eine Brandbombe in einem Kino in Aachen, weil er den Film mit Helmut Berger genauso schlimm fand, wie die RAF den Vortrag von Oscar Negt. Im Bekennerschreiben heißt es:

Der fortdauernden Besetzung palästinensischen Landes durch den Staat Israel. Den weltweiten Angriffen der „amerikanischen- israelischen Herrenrasse“ gegen die (ugandischen, vietnamesischen, palästinensischen u.a.) „Untermenschen“ Die Verhetzung all jener als verrückt und kaputt, die sich bewaffnet wehren.“

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Das Kino in Aachen, Bildquelle: Wikimedia Commons

Ob die kenianischen Opfer zu dem „u.a.“ zählten, wird in dem Schreiben nicht ausgeführt. Gerd Albartus kam ins Gefängnis und arbeitete später beim WDR und den Grünen. Er machte gerne Urlaub in Ibiza und genoss dort das Leben in der Schwulenszene. 1987 kehrte er von einer Reise aus Damaskus nicht zurück. 1991 veröffentlichte die RZ ein Schreiben, in dem die Realität zurückschlägt: „Gerd Albartus ist tot“!

Was war passiert?

Er wurde bereits im Dezember 1987 erschossen, nachdem er von einer Gruppierung, die sich dem palästinensischen Widerstand zurechnet und für die er gearbeitet hat, vor ein Tribunal gestellt und zum Tode verurteilt worden war.“

Die Realität als Schock

Der Grund ist nicht genau bekannt: ob der Grund seine Homosexualität, eine angebliche Zusammenarbeit mit der Stasi oder seine Lossagung vom bewaffneten Kampf war. Sein Abfall von „der Sache Palästinas“ war es jedenfalls nicht. Die Tötung eines Rechtsgläubigen in Syrien löste bei der RZ etwas aus, was man einen Realitätsschock nennen kann:

Israel galt uns als Agent und Vorposten des westlichen Imperialismus mitten in der arabischen Welt, nicht aber als Ort der Zuflucht für die Überlebenden und Davongekommenen, der eine Notwendigkeit ist, solange eine neuerliche Massenvernichtung als Möglichkeit von niemandem ausgeschlossen werden kann, solange also der Antisemitismus als historisches und soziales Faktum fortlebt. Die dramatische Tatsache, daß dieses Sicherheitsbedürfnis der Juden scheinbar nur gegen die Palästinenser zu realisieren ist, stürzte uns nicht in ein unlösbares Dilemma, wir nahmen sie vielmehr zum Anlaß, uns bedingungslos auf die Seite derer zu schlagen, die in unseren Augen die schwächeren waren. Wo wir unter anderen Voraussetzungen auf der Unterscheidung zwischen oben und unten beharrten, sahen wir im Nahen Osten vor allem gute und schlechte Völker. (…) Nein: Die Bereitschaft zur Ermordung eines Genossen läßt sich nicht mit der Härte der Bedingungen entschuldigen, sie ist Ausduck einer politischen Programmatik, deren einziger Gehalt die Erringung der Macht und deren Sprache die der künfitgen Despoten ist.“ 

Wilfried Böses Selektion der Geiseln erschien ihnen plötzlich unerklärbar: nur als Antifaschist sei er ihnen bekannt gewesen. Gesprochen hatte er in Uganda aber in der Sprache der künftigen Despoten. Warum selektiert einer, der sich offenbar allzu selbstverständlich aber sicherlich aufrecht als Antifaschist begriff, Geiseln anhand ihrer Religion/Rasse, genau so wie es auch sein Feind tat? Die RAF hatte ein paar Jahre später erkannt, dass ihre Zeit vorüber war und im Abspann ihrer Farewell-Erklärung 1998 alle aufgelistet, die auf Seiten der bewaffneten Gruppen starben – auch Wilfried Böse und Gerd Albartus.

26 Jahre später

Inzwischen gibt es die Rahmenbedingungen, aus denen die RAF entstanden ist, nicht mehr. Die Sowjetunion hat sich aufgelöst. Sie wurde ohnehin fast nie von der RAF erwähnt. Wie am Ende der Sowjetunion in der 1980ern entscheidet sich heute die nächste Präsidentschaft in den USA zwischen zwei Männern um die 80. Den Konflikt in Israel/Palästina gibt es noch. Aber statt, dass die PFLP Urlaubsflugzeuge entführen lässt, vergewaltigen heute heilige Kämpfer der Hamas auf Captagon Israelinnen im Kampf gegen den Imperialismus Israels oder Westens. Jonathans Bruder, Benjamin Netanjahu, will das Versagen seiner Sicherheitspolitik erst aufklären, wenn der aktuelle Krieg gewonnen ist. 

Einordungen

Die Gefangenen der RAF haben ihre Strafen abgesessen. Nur Daniela Klette muss ihre noch zu bestimmende unter dem absurd vehementen Applaus der Bild antreten. Aus diesem Anlass schreibt der Ex RAFler Karl Heinz Dellwo in der Jungen Welt einen Text, in dem er die RAF nochmal ins Große und Ganze einordnen will:

Die RAF hat sich gegen das imperiale System des Kapitalismus gestellt. Ein relevanter Teil der Nachkriegs- und Enkelgeneration tritt heute mit aller Gewalt für den Fortbestand genau dieses Kapitalismus ein. Von dessen »wertebasierter Liberalität« glaubt sie sich moralisch legitimiert, konkurrierende Kapitalismen wegzufegen, weil die Konkurrenten nicht »liberal«, sondern »autoritär« seien. Als wären sie nicht den gleichen Marktgesetzen unterworfen. Dabei liegt die »Liberalität« des Westens unterm Strich nur im Zubilligen kostenloser Freiheiten, die so lange gültig sind, wie eine Prämisse immer unangetastet bleibt: die Unterwerfung unter das Prinzip der Verwertung von Mensch und Natur.“

Man könnte ja mal den französischen Adel fragen, wie kostenlos die Zubilligung dieser Freiheiten denn war. Dellwo fährt fort:

Dabei geht es auch um das Maß der Verlogenheit, die heute in allen politischen Bereichen Normalität geworden ist und ihre Substanz in einer erneuerten alten Moral hat, nach der Krieg »Frieden« ist und die Forderung nach Frieden und einem Ende des Krieges »Kapitulation«. (…) Auch für etwas anderes ist diesen RAF-Mitgliedern zu danken: Sie haben 1998 die bittere Erkenntnis gehabt, gescheitert zu sein. Sie haben dieses Scheitern akzeptiert und die lange Phase des bewaffneten Kampfes beendet. Nirgends in der Politik und in großen Teilen der Gesellschaft findet sich dagegen die Bereitschaft, die Unvermeidlichkeit einer weltweiten Umbruchsituation zu akzeptieren und dementsprechend zu handeln, statt weiter aus der Etappe bis zum letzten Ukrainer zu kämpfen oder die maßlose Vergeltung in Gaza als »legitim« zu betrachten.“

Lässt man die biografisch bedingten Bezüge zur RAF weg, könnte der Text auch von einer Sahra Wagenknecht oder Gerhard Schröder stammen. Was soll eigentlich die unvermeidliche Umbruchsituation sein, die zu akzeptieren ist?

Gemeint ist wohl eine neue Multipolarität, deren Ausdruck der Krieg in der Ukraine sein soll. Die Politik – gemeint ist wohl die deutsche, nicht die russische oder etwa die der Klasse – will diesen einfach nicht beenden und erkennt nicht, dass sie schon gescheitert ist - wie die RAF. Oder will Dellwo dem Leser mit der Parallelisierung der RAF mit „der Politik“ gar nicht sagen, dass die Gegenüber beider imperialistische Mächte – also heute Russland – sind?

Wenn Soldaten in einem fremden Land stehen, plündern und dort mehrere Provinzen annektieren, ist das kein Imperialismus? Es ist ein unausweichlicher Umbruch. Man muss es nur fest genug wollen, sich einfach nicht mit etwas beschäftigen und schon kann man einfach den Elefanten im Raum links liegen lassen. Dellwo macht es wie Sahra Wagenknecht es auch tut, wenn sie im Interview mit Paul Ronzheimer sagt, sie wolle nicht z.B. aus dem russischen Fernsehen wissen, das schaue sie nicht, es würde sie nur interessieren was Putin sagt z. B. bei Chris Tucker.

Reiche und Arme in Russland

In seinem Buch „Imperium“ beschrieb 1993 der polnische Journalist Ryszard Kapuściński recht hellsichtig, was nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion in Russland heranwachsen würde:

Ein zweiter Prozeß, neben dem Kampf zwischen den Kräften der Integration und der Desintegration, wird die fortschreitende Differenzierung der materiellen Bedingungen der Bevölkerung sein. Auf der einen Seite werden sich die Reichen sammeln (die immer reicher werden) und auf der anderen die (immer ärmeren) Armen. Wie in jeder Gesellschaft mit niedrigem Lebensstandard werden diese Kontraste auch in Rußland besonders scharf und provozierend hervortreten. Es entwickelt sich ein Kapitalismus, oder Pseudokapitalismus, in seiner ursprünglichsten, brutalsten und aggressivsten Form.

Den dritten Prozeß wird die Entwicklung selbst ausmachen. Dieser Entwicklung gebe ich die unbeholfene Bezeichnung Enklavenentwicklung. In hochentwickelten Ländern wie etwa in Holland oder in der Schweiz fallt auf, daß die gesamte materielle Wirklichkeit hochentwickelt ist. (…) In einem Land im Zustand der Enklavenentwicklung bietet sich ein völlig anderes Bild. Dort steht eine luxuriöse Bank neben heruntergekommenen Mietshäusern, ein elegantes Hotel ist umgeben von schmutzigen Slums, vom hell erleuchteten Flughafen fährt man in eine dunkle, düstere Stadt, neben den glänzenden Schaufenstern eines Ladens von Dior finden wir die schmutzigen, leeren und blinden Auslagen primitiver Ramschbuden, neben imponierenden Limousinen alte, stinkende, überfüllte städtische Autobusse. Das Kapital (vor allem das fremde) hat sich seine wohlriechenden und hellen Quartiere errichtet und ist weder Imstande noch daran interessiert, auch das übrige Land zu Entwickeln.

Die Russen diskutieren – was tun? Die einen sagen: zurückkehren zu den Wurzeln, zum alten Rußland. Solschenizyn behauptet, das zaristische Rußland sei ein wunderbares Land gewesen, >reich und blühend<

Vorbild für zukünftige Ausbeutung

Nach dem Überfall der russischen Armee auf die Krim 2014 hängte sich Putin ein Bild von Zar Nikolaus I. ins Büro. Wo auch immer ihm ein Mikro vor die Nase gehalten wird, redet er über den Fürsten Rjurik, der im 9. Jhd. in Rostow am Don gegen einen Baum gepinkelt hat, um daraus Legitimation für sein heutiges Handeln zu ziehen. Dass es dabei nicht um die Unterwerfung unter das Prinzip der Verwertung von Mensch und Natur geht, behauptet Putin aber nicht.

Mit der sich in den USA ebenfalls zunehmenden Herausbildung von Enklaven des Wohlstands orientiert sich dort ein Pseudofaschist wie Trump an Putin. Dessen moskowitischer Imperialismus und sein ideologisch beliebiger Sozialdarwinismus ist das Vorbild für zukünftige Ausbeutung weltweit. Soll das der unausweichliche Umbruch sein, den es zu akzeptieren gilt, statt den letzten Ukrainer auf dem Schachfeld zu bewegen?

Die indische Autorin Kavita Krishnan bringt auf den Punkt, was sich selbst als links empfindende mit ihrem Glauben, dass ein Friede in der Ukraine einfach herzustellen sei, real bewirken:

Es ist merkwürdig, dass die Linke sich die Sprache der Polarität zu eigen gemacht hat. Der Diskurs der Polarität gehört zur realistischen Schule der internationalen Beziehungen. Der Realismus sieht die globale Ordnung als Wettbewerb zwischen den außenpolitischen Zielen einer Handvoll „Pole“ – Großmächte oder aufstrebende Großmächte – , von denen angenommen wird, dass sie objektive „nationale Interessen“ widerspiegeln. (…) Eine solche linke Formulierung bietet den faschistisch-autoritären Projekten, die sich selbst als Verfechter der antiimperialistischen „Multipolarität“ bezeichnen, keinerlei Widerstand. Vielmehr verschafft sie ihnen einen Mantel der Legitimität.

Die neue Multipolarität soll Herrschern die Freiheit bringen, ungestört Faschist zu sein und seine Unterworfenen zu treten: in China, Indien, Russland, der Türkei oder dem Iran. Es geht darum, kulturell authentisch zu sein, während man vergangene Imperien neu errichtet.

Und 30 Jahre nach dem Tod von Gerd Albartus wird von denen, die von sich in Opposition zu Unterdrücken wähnen, die Sprache von Despoten gesprochen, weil man auf dem Highway in die Hölle nur um die eigene Geschichte kreist. Gegenüber dieser Realitätsblindheit eines Karl Heinz Dellwo oder anderer multipolarer Antiimperialisten von AfD bis SPD behält trauriger Weise eine Parole der RAF ihre Geltung:

KRIEG DEM IMPERIALISTISCHEN KRIEG!