Wie sollen Linke mit der AfD umgehen?

Symptome einer nervösen Gesellschaft

Nazis raus! Aber was ist mit der AfD?

Willkommen in Europa! Nach der Wahl zum Europäischen Parlament in 28 Länder steht fest: Eine Partei rechts von der Union konnte in Deutschland sieben Prozent der Wähler für sich gewinnen. Sieben Prozent für die »Alternative für Deutschland« um Bernd Lucke entsprechen sieben Mandaten. Ein gesellschaftlicher Zuspruch, der zwar in Deutschland, nicht aber in anderen Ländern der Europäischen Union (EU) neu ist. Seit Jahren haben rechtspopulistische Parteien in Europa Erfolge bei Wahlen. Seit Jahren hofft das Milieu der »Ex­tremisten der Mitte« in Deutschland vom rechten Rand der Union über die neurechte Wochenzeitung Junge Freiheit (JF) bis zu den gewöhnlichen Vertretern rassistischer Ressentiments auf die Herausbildung einer neuen politischen Kraft zwischen CDU und NPD. Seit dem 25. Mai ist diese Hoffnung durch den Wahlerfolg der AfD gestärkt. Endlich das Ende des »Demutskonservatismus« beschleunigen, den »Nasenring« Auschwitz entfernen, den Links-Trend der Angela-Merkel-CDU beenden, der »political correctness« entgegenkotzen, den »Genderwahn« lächerlich machen und das »Gutmenschentum« angreifen. Der derzeitige Star dieser Tendenz am publizistischen Himmel ist Akif Pirincci. Seine verbale Vulgarität in »Deutschland von Sinnen« gegen »Migrantenindustrie, schwachsinnige Politiker, (…) geisteskranke linke Medienleute« und »Araber oder Türken«, löst mehr als Applaus aus. Endlich äußere sich jemand mal »saftiger« als Thilo Sarrazin in »Deutschland schafft sich ab«, schrieb Michael Paulwitz am 29. März erfreut in der JF. Pirinccis radikalisierte Position, symptomatisch für das Milieu der AfD-Wähler, zeigt, dass das lange Ignorieren der AfD genutzt hat.

Im Europawahlkampf suchten CDU und SPD kaum bis gar nicht die inhaltliche Auseinandersetzung mit der AfD. In der heißen Phase fielen von den beiden sogenannten Volksparteien zunächst Sätze wie »Die Antworten der AfD sind keine Antworten«, ohne dass sie bemerkt hätten, dass ihre eigenen Antworten für viele auch keine Antworten waren. Später im Wahlkampf tönte Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU): »Die EU ist keine Sozialunion«, »wir wollen Hartz IV nicht für EU-Bürger zahlen, die sich allein zur Arbeitssuche in Deutschland aufhalten«, und der sozialdemokratische Spitzenkandidat Martin Schulz – als Präsident des Europaparlaments führend an der EU-Politik beteiligt – wetterte gegen den »Regelwahn« der Brüsseler Bürokratie: »Dieser Wahn macht die Leute bekloppt!« Bereits vor dem Europawahlkampf hatte die CSU die sogenannte Armutseinwanderung angeprangert. Der Erfolg der AfD bei der Bundestagswahl – mit 4,7 Prozent knapp an der Fünf-Prozent-Hürde gescheitert – hatte sie aufgeschreckt.
Noch vor dem Europawahltag hatte die AfD-Parole »Wir sind nicht das Weltsozialamt« den Diskurs beeinflusst. Die AfD behauptete, sie habe das als erste gesagt. Eine Partei wollte das aber so nicht hinnehmen: Die NPD betonte ebenso, dass sie das schon viel länger sage. Der diskursive Effekt: Die rassistische Hetze erscheint in der Mitte der Gesellschaft nun als legitime Wahrheit. Die­se Diskurse sollten nicht bloß in den Milieus der üblichen Verdächtigen thematisiert werden.

Dass man diesem Trend nach rechts nicht begegnen kann, indem man die Rhetorik übernimmt und die entsprechenden Positionen aufgreift, ist schon lange klar. In Hamburg gelang der Partei Rechtsstaatliche Offensive um Ronald Schill 2001 der Einzug in der Bürgerschaft, da CDU und SPD nicht bloß das Thema »innere Sicherheit« aufgriffen, sondern ebenso die von Schills Partei geforderten radikalen Maßnahmen. Aus dem Stand hatte die Schill-Partei am 23. September des Jahres bereits 19,4 Prozent der Stimmen erhalten. Dem Original wurde der Vorzug geben.
Das Ergebnis von vor 13 Jahren wurde durch statistische Untersuchungen bekräftigt. In den vergangenen Jahrzehnten haben Studien ein rechts­populistisches Potential von 20 Prozent in der deutschen Gesellschaft ausgemacht. 2010 zeigte eine Emnid-Umfrage erneut das Potential für eine »bürgerliche Protestwahl« auf: 18 Prozent der Befragten konnten sich vorstellen, eine neue Partei zu wählen, wenn Sarrazin ihr vorstehen würde. Jeder fünfte Deutscher unterstützte die rassistischen Thesen des Bestsellerautors. Keine Überraschung, dass Pirincci vier Jahre später auch zu den Bestsellersautoren gehört.
Am 4. Juni legten Oliver Decker, Johannes Kiess und Elmar Brähler die Studie »Die stabilisierte Mitte. Rechtsextreme Einstellung in Deutschland 2014« vor. Das positive Ergebnis: Von allen Befragten wiesen 5,6 Prozent ein »geschlossenes rechtsextremes Weltbild« auf und auch aus­länderfeindliche, chauvinistische und antisemitische Einstellungen sind rückläufig. Das negative Ergebnis: Bei mehr als 50 Prozent der Befragten hat die EU »keine positive Resonanz«. Die Wut gegen Asylbewerber, Muslime, Sinti und Roma wachse, heben die Wissenschaftler hervor. Asylbewerber werden von 84,7 Prozent der Befragten in Osten Deutschlands und von 73,5 Prozent in Westen abgelehnt oder schlecht beurteilt. 55,4 Prozent sagen des Weiteren, sie hätten »Probleme damit, wenn sich Sinti und Roma in meiner Gegend aufhalten«, 36,6 Prozent meinen, Muslimen sollte »die Zuwanderung nach Deutschland untersagt werden«, und 43 Prozent sagen, sie fühlten sich wegen der Muslime »wie ein Fremder« im eigenen Land. »Die Empfänglichkeit für die Ideologie der Ungleichwertigkeit ist weiterhin vorhanden«, betonte Decker bei der Vorstellung der Studie. »Wir sehen hier eine autoritäre Dynamik. Nicht Migranten im Allgemeinen werden abgelehnt, viele Deutsche denken nun: Die bringen uns was. Aber jene, die die Phantasie auslösen, sie seien grundlegend anders oder hätten ein gutes Leben ohne Arbeit, die ziehen die Wut auf sich.« Und diese Vertreter des »Ja, aber« und »Man muss doch mal sagen dürfen« wählen die AfD. Nimmt man die »Sorgen und Ängste« Diesen Wutbürgern mit ihrem Sozialrassismus und Wohl­stands­chauvinismus, mit ihren »Ängsten und Sorgen« sollte nicht hinterhergelaufen, sondern vielmehr entgegengetreten werden.

In den Niederlanden ist die vermeintliche Alternative im Vergleich zu anderen europäischen Länder spät aufgekommen. »Ohne Pim Fortuyn kein Geert Wilders«, sagte Willem Wagenaar, Bildungsreferent bei der Anne-Frank-Stiftung. Zwei Jahre vor dem erneuten Einzug der »Partei der Freiheit« von Wilders in das Europaparlament führte Wagenaar im Gespräch in Amsterdam aus, dass Fortuyn in der Öffentlichkeit die Befürchtungen und Bedenken vor Einwanderung und Islamisierung angesprochen hätte, über die die anderen Politiker geschwiegen hätten. »Fortuyn sagte, was viele dachten, Wilders führt es fort und spitzt weiter zu«, so Wagenaar. Längst hätte eine inhaltliche Debatte über diese Ressentiments geführt werden müssen. Ein Widerspruch, der auch in Deutschland dringend geboten ist. Auf die bürgerlichen Parteien alleine zu hoffen, könnte vergeblich sein. Ein Teil von ihnen ist selbst »Teil des Problems«. Keine neue Erkenntnis. Antifa war noch nie bloß Busfahren gegen rechtsextreme Aufmärsche. Antifa scheint aber immer noch zu wenig Reflexion über das Milieu zwischen JF und CDU anzutreiben.
In der JF hoffte Karlheinz Weißmann am 6. Juni, dass die AfD ihre Anhängerschaft bei der »Mittelschicht« der »hart arbeitenden steuerzahlenden Familien gründenden (…) Leute« festigen könne, die beunruhige, dass die »politische Klasse« die »nationalen Interessen« verrate, um sich dem »globalen Kapital oder der vaterlandslosen Intelligenz anzudienen«. Aus »der Mitte« kommt nach Analysen von Infratest dimap auch – wie Studien schon annahmen – bei der Europawahl der Wahlzuspruch für die AfD. Für sie stimmten von den CDU-Anhängern 470 000, von der SPD-Klientel 170 000, von den Linken 100 000 und von den FDP-Anhängern 50 000. Arbeitslose wie Professoren machten bei der AfD ihr Kreuz. Von einer »kleinen Volkspartei« spricht Lucke seit neuestem gerne. Auffallend: Bei der Bundestagswahl gaben 340 000 Wähler der Linken der AfD noch ihre Stimme. Vielleicht haben die wenigen inhaltlichen Diskussionen über die AfD zumindest in diesem Lager gewirkt.
Die AfD ist nicht alleine das Problem. Sie ist vielmehr das Partei gewordene Symptom einer ressentimentgeladenen, nervösen Gesellschaft. Die gesellschaftlichen Verhältnisse zum Tanzen zu bringen, schlug Karl Marx bereits 1844 vor. 2014 wird gegen die bestehende Ausgrenzungsgesellschaft von der Band »Ja, Panik« erneut empfohlen: »Shake the government/Shake its police/Dance the ECB/Swing die Staatsfinanzen/Sing ihnen ihre Melodien/Zwing sie zum Tanzen«. Vielleicht hilft das ein wenig weiter – auch gegen rechte Alternativen.